Der bekannte russische Unternehmer und Milliardär Oleg Deripaska hat sich kürzlich recht kritisch über das russische Vorgehen seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine geäußert. Anlass war ein Vortrag Deripaskas an einer Moskauer Universität.
Im Folgenden soll es um die Frage gehen, ob a) ein Regimechange in Russland möglich, wahrscheinlich oder sinnvoll wäre, und b) welche Art von Regimechange denn in der „westlichen“ Welt möglich, wahrscheinlich und sinnvoll wäre (wie bereits im vorletzten Beitrag erörtert).
Oleg Deripaskas Russland-Kritik
Man kann den Tenor seines Vortrages, in dem es also auch um die Eventualität eines Regimechanges in Russland ging, in der folgenden knappen Zusammenfassung der Zeitschrift Finanzen aus Österreich auf den Punkt bringen: die russische Wirtschaft kommt mit den Sanktionen noch gut zurecht, eine „Zerstörung der Ukraine“ sei aber „kolossaler Fehler“, wie diese Zeitschrift Deripaska wiedergibt:
Der als kremlnah geltende Oligarch Oleg Deripaska sieht die russische Wirtschaft mit den westlichen Sanktionen besser zurechtkommen als gedacht, warnt aber vor einer Zerstörung der Ukraine. „Ich denke, es wäre ein kolossaler Fehler, die Ukraine zu zerstören“, sagte Deripaska am Dienstag in Moskau laut der Nachrichtenagentur RBC. Die derzeitigen westlichen Sanktionen hingegen bezeichnete er als „schnell verderbliche Ware“. „Wir verstehen, dass sie in eineinhalb Jahren nicht nur sinnlos sind, sondern in die entgegengesetzte Richtung arbeiten“, behauptete er.
„Zerstörung der Ukraine“ – was auch immer darunter genauer zu verstehen ist, also „Denazifizierung“ oder „Demilitarisierung“, wie es russischer Sicht entspricht, oder „Spezialoperation“ oder kriegerische Invasion: es handelt sich um keinen besonders freundlichen Akt, der von ukrainischer Seite mit Zustimmung und Jubel begrüßt würde, auch wenn es von den Russen anfangs wohl so erwartet worden sein mag. Deripaska wäre wohl glücklicher gewesen ohne eine solche Spezialoperation, so wird ein Hörer dieses Vortrages in Moskau wohl ohne ihn gründlich mißzuverstehen wahrgenommen worden sein.
Soweit darf man Deripaskas Vortrag wohl als Kritik am russischen Vorgehen verstehen. Aber was folgt daraus, nach Deripaska? Stellt er sich damit auf sie Seite des Westens? Der ja das Vorgehen Russlands nicht nur kritisiert, sondern es mit allen ihm zu Verfügung stehenden (nicht-militärischen) Mitteln zu verhindern sucht? Der darum zu dem Mittel der Sanktionierung Russlands greift? Dem stimmt Deripaska dann wiederum nicht zu, jedenfalls disstianziert es sich von den Santionen, und nennt sie „wenig wirkungsvoll“ oder gar sinnlos.
Auch der Spiegel berichtet von dieser Einschätzung Deripaskas, der die Invasion in die Ukraine als „kolossalen Fehler“ bezeichnet:
„Der Gründer des Aluminiumkonzerns Rusal sprach auf der Pressekonferenz wiederholt von einem »kolossalen Fehler« und bezeichnete die russische Militäroffensive in der Ukraine zudem als »Krieg« – eine Bezeichnung, die von den russischen Behörden verboten wurde.“
Nach Einschätzung des Spiegel also ebenfalls scharfe Kritik. Aber: darf man Deripaska so verstehen, dass er mit dem Gedanken eines Regimechanges spielt, oder dass aus anderer Perspektive vielleicht damit zu rechnen ist? Damit rechnet Deripaska dann offenbar nicht. Aber er liefert auch keine Antwort auf die Frage, ob er einen Regimechange womöglich für berechtigt, oder wünschenswert, oder notwendig halten würde:
Die politische Lage in Russland hingegen bezeichnete Deripaska als stabil. Im Land gebe es „kein Potenzial für einen Regimewechsel“. Die Opposition habe die Flucht ins Ausland vorgezogen und es sei nicht davon auszugehen, dass Männer wie Michail Fridman, Pjotr Awen oder der frühere Yukos-Chef Michail Chodorkowski „zu den Waffen greifen und auf Panzern durchbrechen in die Region Brjansk“ im Westen Russlands, sagte der 54-Jährige. Deripaska stufte die Milliardäre Fridman und Awen als Oppositionelle ein, obwohl beide auf den westlichen Sanktionslisten stehen. Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sie allenfalls vorsichtig kritisiert.
Die „Opposition“ (so nennt Deripaska die vertriebenen bzw. geflohenen früheren „Oligarchen“) wäre also nach dieser Einschätzung dazu weder willens noch in der Lage. Nur insofern ist die Lage im Ergebnis also – vorerst – stabil.
Aber Deripaska ist offenbar durchaus auch so zu verstehen, dass er oder ihm nahestehende Kreise diesen Gedanken gedanklich durchspielen, wie die russische Zeitschrift „Kommersant“ schreibt. Und diese sehen einen „Zeitspielraum“ von zweieinhalb Jahren sehen, um „diese Möglicheit zu testen“, wie Deripaska behauptet. Das klingt dann schon deutlich weniger nach Stabilität. Wie der „Kommersant“ weiter schreibt, hat „das Netz“ (also entsprechende User-Kommentierungen aus Online-Medien) diese Äußerungen des Unternehmers Deripaska keinesweg zustimmend, sondern tatsächlich sogar „mit Fassungslosigkeit“ aufgenommen, also deutlich ablehnend, sodass sich aus dieser Perspektive eben dieser Eindruck einstellt, er bedaure es in der Tat, dass „die Opposition“ nicht aktiver in die Ereignisse eingreift.
Man könnte eine solche Wortmeldung eines bedeutenden, schwerreichen russischen Unternehmers also einmal so verstehen, als läge ein Regimechange gewissermaßen in der Luft. Was das gut? Wäre ein Regimechange – aus einer höheren, übergeordneten, demokratischen Perspektive sozusagen – eine gute Idee? Wäre er zu rechtfertigen? Warum wäre er das, und wozu könnte oder sollte ein Regimechange führen?
Wer oder was „ist“ das Regime in Russland?
Deripaskas Sicht auf Russland ist die Sicht des Unternehmers, zu dem er nach dem Ende der Sowjetunion ja geworden ist, und damit unbestreitbar sehr erfolgreich war. Wie sieht Deripaska die beste aller Welten, wie sieht für ihn „die Zukunft“ Russlands aus? Für Deripaska geht es vor allem um den Erhalt bzw. möglichst auch die Weiterentwicklung der Marktwirtschaft in Russland:
„Russland entpuppte sich als viel marktwirtschaftlicher, als ich es mir vorstellen konnte. Weder der Staatskapitalismus noch die Kriminalisierung der Wirtschaft haben die Marktwirtschaft brechen können. Und die Erfolge, die die Wirtschaft jetzt zeigt, erlauben es zu sagen, dass Russland, wenn der Staat sich nicht darauf einstellt, in acht bis neun Jahren wieder eine viel stärker diversifizierte Wirtschaft haben wird. Wenn der Staat in der Lage ist, sich anzupassen, um die Marktwirtschaft zu erhalten, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, um einen Schuldenmarkt zu schaffen, wird das in vier Jahren geschehen.“
Was könnte aus dieser Sicht ein Regimechange bewirken? Welche Art von Regimechange wäre aus Deripaskas Sicht im besten Fall zu wünschen? Ohne dass er sich im Einzelnen näher dazu zu äußert oder dass entsprechende Äußerungen bekanntgeworden wären, wäre anzunehmen, dass er sich von einem Regimechange nichts anderes wünschen würde als eine weitere Stärkung der Marktwirtschaft, also wirtschaftliche „Gesundung“ und Expansion. Er singt das Hohelied der Marktwirtschaft, wie es auch im Westen nicht anders zu erwarten wäre. Die besondere Rolle, die der Staat, also die staatliche (und eben nicht private) Verwaltung und Nutzung der immensen Naturreichtümer Russlands zu spielen hat, scheint ihm dabei aber gar nicht bewusst zu sein.
Sein eigenes Unternehmen, das er geschaffen und erfolgreich gemacht hat, hat ohne Zweifel immense Werte geschaffen. Diese Werte stammen nicht aus der Verwertung von Bodenschätzen, sondern sind auf „natürliche“ Weise, durch Arbeit, Fleiß, Geschick und unternehmerische Leistung der beteiligten Menschen geschaffen worden. Aus der Sicht des schöpferischen Schumpeterschen Unternehmers ist das insoweit nichts besonderes, sondern der Normalfall erfolgreichen Wirtschaftens. Aber Russland ist insofern eben nicht der Normalfall: es besitzt eben diese immensen Naturschätze, und kann zum Nutzen und Wohl des Staates und seines Staatsvolkes darüber verfügen, im Rahmen der dazu geschaffenen Rahmenbedingungen. Und die beinhalten auch, dass der Staat die Mehrheit über die die Naturreichtümer verwertenden Unternehmen hält. Hier hat der Staat in weiser Voraussicht Vorkehrungen und Begrenzungen eingebaut, die der privaten Nutzung Grenzen ziehen.
Könnte ein Regimechange etwas ändern, zum Nutzen und Wohl der Masse der Menschen?
Solange fossile Energien in den nachgefragten Mengen überhaupt noch wirtschaftlich genutzt werden können, kann ihr volkswirtschaftlicher Ertrag sicher nicht dadurch vergrößert werden, dass private Unternehmen die Ausbeutung der Bodenschätze übernehmen, und der Staat nur durch Zahlung von Ertragssteuern daran beteiligt würde. Öl und Gas kommen im wesentlichen von selbst aus dem Boden; man muss nur die physikalischen Kräfte wirken lassen, und dazu kann keine erdenkliche private unternehmerische Leistung einen Beitrag leisten, der den natürlichen Bodenertrag für den Staat bzw. das Volk übersteigen würde.
Das „Regime“ in Russland ist also im wesentlichen dieses Staatsorgan oder diese Staatlichkeit, und sie hat keine ehrenvollere Aufgabe, als dafür zu sorgen, dass die (noch) den Großteil der Erträge aus fossiler Energiegewinnung ausmachenden Gewinne auch in staatlicher Hand bleiben. Dazu muss „das Regime“ einen ständigen, zähen, glasharten Kampf ausfechten, weil die nach diesen Reichtümern gierenden staatlichen Nachbarn und „Partner“ eben zu gerne eine Change des Regimes herbeiführen würden – oder nur zum Nutzen der privaten Nutznießer.
Dass jemandem wie Deripaska mit seiner Geschichte und seiner familiengeschichtlichen Bindung zu diesem Land dieser Sachverhalt nicht klar ist, muss in der Tat fassungslos machen. Ein Land wie Russland würde nach einem Regimechange nicht reicher werden, sondern sehr schnell zur Beute all der lauernden Aasgeier, die – wie schon seinerzeit unter Boris Jelzin – auf diesen Moment ja nur warten. Sehr schnell würde Russland nicht nur seine Naturreichtümer, sondern wohl auch seine Staatlichkeit in der altbekannten Form verlieren, wie die Bestrebungen zur nun so getauften „Dekolonialisierung“ Russlands ja zeigen, und worunter sich nichts anderes verbirgt als die Zerschlagung des alten Riesenreichs Russland in Kleinstaaten, mit dem Ziel des dann restlos ungehinderten privaten Zugriffs fremden Kapitals auf die gegenwärtig noch verhandenen Bodenschätze.
Revolution – in Russland oder anderswo?
Einen Regimechange in diesem Sinne, als Privatisierung und „Dekolonialisierung“, würde die gesamte „westliche“ Welt also sicherlich mit Jubel begrüßen, er würde aber weder Russland als selbstständiger, souveräner Nation in Würde und Freiheit etwas nützen, noch auch einem seine Würde und Souveränität ja nun immer mehr verlierenden Europa. Und was die Ukraine und ihre „Zerstörung“ angeht: niemand will die Ukraine zerstören. Wie der Ökonom und Direktor des Earth Institute an der Columbia University Jeffrey Sachs kürzlich in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung erläuterte, ist die Ukraine nicht ein x-beliebiger Staat aus dem untergegangenen Ostblock. Die Ukraine war das Schlüsselelement im Kontext der US-kolonialistischen Bestrebungen der „Neocons“, die sich sich für die Nato-Erweiterung um die Ukraine einsetzten, „noch bevor dies 2008 unter George W. Bush jr. zur offiziellen US-Politik wurde. Sie betrachteten die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als Schlüssel zur regionalen und globalen Vorherrschaft der USA.“ (Jeffrey Sachs). Früher oder später war es unausweichlich, diesen für Russland existenz-bedrohlichen Entwicklungen ein Ende zu setzen.
Wodurch unterscheidet sich aber nun die Situation in Russland von der in anderen spätenindustrialisierten, reifen, aus „natürlichem“ Reichtum reich gewordenen Ländern? Eben dadurch, dass die ihre Zukunft tatsächlich bereits hinter sich haben. Sie waren bereits erfolgreich, über Jahrzehnte, und sie können ihren geschaffenen Reichtum auf natürlichem, oder auch vernünftigem, rationalem, also marktrationalem Wege nun nicht mehr erweitern. Die bekannten Probleme mit mangelnden Investitionsmöglichkeiten, mit der Sparschwemme und der nur noch spekulativen Reichtumsvermehrung sind seit rund 40 Jahren, als sich verschärfendes Krisenphänomen seit rund 20 Jahren in allen denkbaren Varianten durchdekliniert worden. Es ist nur der vollkommen irrationalen, und angesichts der atomaren Bedrohungen selbstmörderischen Gewinnsucht der nun hochkonzentrierten, wenigen verbliebenen weltbeherrschenden Unternehmen zuzuschreiben, dass diese Sackgasse der wirtschaftlichen Entwicklung nicht längst aufgegeben und als solche erkannt worden ist.
Hier, im entwickelten Westen, wäre eine Revolution eben tatsächlich allmählich fällig, und sie würde etwas vollkommen anderes bedeuten als das, wovon spätentwickelte Neu-Marktwirtschaftler wie Deripaska – also in diesem nachgeholten russischen Spät-Kapitalismus – nun noch träumen mögen. In Russland wird es – wenn man also einen wohlüberlegten, weise vorauschauenden Verzicht auf einen etwaigen Regimechange in diesem falschen Sinne vorausgesetzt – noch eine erhebliche Zeit lang sinnvoll sein, dass dieses auf Abwege geratene Land seinen Weg fortsetzt und seine Möglichkeiten nutzt. Hier, im „neuen“ Russland, kann eine marktwirtschaftliche Entwicklung unter den Bedingungen des bestehenden „Regimes“ noch lange Zeit Früchte tragen.
Aber hier, im „alten“, überreifen Westen, wäre nun eine ganz andere Art von Regimechange notwendig, und die große Frage wird sein, ob dieser alte und nun morsche, nicht mehr ganz so „demokratische“ Westen es fertig bringt, einen solchen Regimechange in die Wege zu leiten.