Die Frage, ob es die „bloße Technik“ ist, die die Epochen und die Lebensverhältnisse der Menschen bestimmt, zieht einen ganzen Strom von Fragestellungen nach sich. Wenn die Technik bestimmend ist, sind dann „wir“, die Menschen, also aufgeklärter Wille und informierte Öffentlichkeit oder moderne demokratische Institutionen, sind wir Menschen es dann nicht, die über unser Schicksal bestimmen? Ist unsere Geschichte dann determiniert? Verläuft sie nach einem von uns nicht festgelegten, uns nicht einmal bekannten Plan?
Umgekehrt stellt sich die Frage nach der Qualität, dem Ursprung oder der Gültigkeit des Orientierungswissens, wenn es doch der Mensch selbst sein soll, der in diesem Sinne die Zügel über sein Schicksal in der Hand hat. Wie gewinnen wir dann Gewissheit? Wie wollen wir sicher sein, dass wir nicht vielleicht heute einer Wahrheit oder Meinung unter vielen folgen, die sich morgen schon als Irrtum erweist? Dem Banner des „Sozialismus“ und den Versprechungen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ sind Menschen der halben Welt gefolgt, über mehrere Generationen, und offenbar sind sie tragisch gescheitert; sie haben das von ihnen erhoffte Ziel nicht erreicht. Woran sind diese Menschen gescheitert: an mangelnder Technik? Oder waren die Idee, die Werte, die Orientierung „falsch“? War die Idee „richtig“, aber sie scheiterten an der „egoistischen Natur“ des Menschen, an mangelndem Willen oder fehlender sozialistischer Moral? Oder an mangelnden charakterlichen Qualitäten der politischen Führung, die sich durch den Besitz der Macht hat korrumpieren lassen? Woran liegt es umgekehrt, dass sich der Kapitalismus heute offenbar noch immer nicht überwinden lässt? Ist es ebenfalls fehlende „bloße Technik“? Soll er denn überwunden werden? warum? woher gewinnen wir Gewissheit, ob an diesem Kapitalismus etwas falsch ist, was wäre es, und wie ließe es sich gegebenenfalls korrigieren?
Die vorherrschende Wertorientierung des „Westens“ ist jedenfalls klar; der Westen versteht sich heute als „Wertewesten“, und betont bei allen politischen Entscheidungen mit einer gewissen Tragweite die gemeinsame Verwurzelung in einem Wertekanon. Sowohl die Europäische Union als auch die Erweiterungen der NATO finden ihre Legitimation in der Bezugnahme auf diesen Wertekanon, wie er etwa im Artikel 2 des Vertrages von Lissabon formuliert wird: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Die Präambel des EU-Vertrages versteht das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“, als eine der Kraftquellen, aus der normative Kraft beim Beschluss zur Gründung der Europäischen Union zu schöpfen war.
„Ein Kantischer Wertehorizont (aus: Die Grosse Digitalmaschinerie)“ weiterlesen →