In seinem Handelsblatt Morning-Briefing vom 30.01. schildert Gabor Steingart die haarsträubenden Hintergründe dieser neuesten Dimension des VW-Abgasskandals, des „Diesel-Gates“. VW hat an Tier- und zeitweilig sogar an Menschenversuchen die Gefährlichkeit der Abgasbelastung von Dieselabgasen testen lassen. Dem Dieseluntersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages lagen Berichte darüber vor, und dem ist es egal. Albrecht Müller von den Nachdenkseiten teilt Steingarts Empörung: „Der Herausgeber des Handelsblatts hat den Nagel auf den Kopf getroffen: Er nennt die Tests der Abgasbelastung an Affen und die damit einhergehende Kommentierung bzw. Ignoranz bei Wissenschaftlern, Wirtschaftsführern und Politikern eine Elitenverwahrlosung.“
Vor einigen Jahren erschien Steingarts Buch mit dem schönen Titel „Bastardökonomie“, das sein Verlag mit folgenden Worten ankündigt: „Nach der Krise ist vor der Krise. Vor einem staunenden Publikum türmen sich die Milliarden zu Billionen: Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Kaum jemand kann noch verstehen, was mit unserer Wirtschaft los ist. Es geht uns gut, aber wir sind besorgt. Wir exportieren fleißig, aber die Verschuldung steigt. Wir helfen in Südeuropa, doch die Lage spitzt sich weiter zu. Wir tanzen in den Tempeln des Konsums und wissen längst, dass es so nicht weitergehen kann.“
Was ist mit unserer Wirtschaft, und was ist mit unseren Eliten los?
Was ist mit unserer Wirtschaft los – wir überschütten uns gegenseitig mit den Erzeugnissen unserer fleissig arbeitenden Ökonomien, und hoffen sie losschlagen zu können. Grosse Empörung löste die Idee Donald Trumps aus, die amerikanische Wirtschaft abschotten zu wollen, damit sich nicht Elendsbilder wie verfallende Stadtteile und Hochhäuser in Detriot, oder Zeltstädte in Los Angeles in Amerika ausbreiten. Das ist Protektionismus! Amerika soll doch einfach selber bessere Autos bauen. Dann sieht man die Elendsbilder woanders.
US-Konzerne, denen es nicht so schlecht geht, lagern ihr Geld lieber im Ausland, wie zum Beispiel Apple. Apples Geldreserven betrugen Ende September 268,9 Milliarden Dollar. Davon lagerten 94 Prozent außerhalb der USA, schrieb der FOCUS im Januar. Man muss ihnen großzügige Steuergeschenke machen, um sie dazu zu bewegen, doch wenigstens einen Teil dieses Geldes dem „Homeland“, den eigenen notleidenden Landsleuten zur Verfügung stellen, statt es weiter vollkommen ungenutzt aus Offshore-Konten liegen zu lassen. Was ist mit unseren Eliten los?
Es lassen sich viele Beispiele mehr nennen, aus denen hervorgeht: die Wirtschaft, ihre Leistungsfähigkeit, ihre Ausstattung mit Maschinen und Anlagen und gut ausgebildeten und motivierten Menschen ist meist sehr gut, in einigen Ländern mehr als in anderen, aber in den westlichen Vorzeigeindustrien brummen die Industrien und sind bestens geölt, sie wissen vor Potenz und Kraft sich nicht mehr zu lassen, so können vor Kraft kaum laufen. Ihnen fehlt nichts, nicht Geld, nicht Menschen, noch modernstes Sachkapital. Das Einzige, was ihnen fehlt, sind Märkte und Ressourcen.
Die neue „Sicherheits“-Doktrin
Und genau darum geht es in der neuen US-Sicherheitsdoktrin: den „Kampf um wirtschaftlichen Erfolg und begrenzte Ressourcen“. Wenn die Märkte, der freie Handel, der Zugang zu Ressourcen über den freien Handel und der Zugang zu Märkten über den freien Handel den gewünschten Erfolg nicht mehr bescheren wollen, dann muss wohl das Militär nachhelfen. Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Die ZEIT findet: „Überraschend deutlich beschreibt das Dokument China und Russland als revisionistische Mächte, die darauf hinarbeiteten, ihre eigenen Volkswirtschaften und die anderer Staaten weniger frei und weniger fair zu machen. Sie bauten ihr Militär aus und kontrollierten den Fluss von Informationen und Daten, um die eigene Gesellschaft zu unterdrücken und ihren Einfluss auszubauen.“
Revisionistische Mächte? Russland und China sind die einzigen Grossmächte der Welt, in denen nicht das globalisierte Kapital das letzte Wort hat, sondern die Politik. In China handelt es sich dabei um die kommunistische Partei, die ihre Vormachtstellung nicht abgibt, und in Russland um die Regierung Wladimir Putins, seitdem dieser den völlig plan- und besinnungslosen Ausverkauf seines ewig besoffenen Vorgängers Jelzin vor fast 20 Jahren beendet hat. Diese Volkswirtschaften sind nicht so frei, das globale Finanzkapital an ihre Fleischtöpfe zu lassen. Und weil diese Volkswirtschaften „weniger frei“ sind, nicht so frei, das Geld und das kurzfristige Gewinninteresse bestimmen zu lassen, was geschieht, sondern – wie sie sagen, und wie es nicht so unplausibel erscheint – die an den langfristigen Interessen der Menschen ausgerichtete Politik: darum sind China und Russland „revisionistische Mächte“, und werden zu den neuen Feinden erklärt, nachdem der Terrorismus sich nun wirklich nicht mehr dazu eignet, und vor den Augen der Welt zu deutlich geworden ist, dass die USA diesen Terrorismus eher züchten, als ihn zu bekämpfen.
Darum hängen die neue Sicherheitsdoktrin, die Kapitalschwemme, die Nullzinsen und die Elitenverwahrlosung miteinander zusammen. Die Herren der westlichen Welt, die Massen des konzentrierten Kapitals, gieren nach Renditen und Verzinsung, und dazu brauchen sie Zugang zu Märkten und Ressourcen. Und die „revisionistischen Mächte“ Russland und China hindern sie daran. Sie hindern sie am Zugang zu den eigenen Märkten und Ressourcen, und sie hindern sie daran, auf der Weltbühne nach Belieben zu schalten und zu walten, wie es den Herren des Grosskapitals gefällt. Die verwahrlosten Eliten in der Wirtschaft und in der Politik sind zu Handlangern der Kapitalinteressen geworden, und haben nur noch winzige Spielräume, Politik im Interesse der Menschen zu gestalten. TINA – there is no alternative. Noch ist Margaret Thatchers triumphierende Analyse nicht wiederlegt worden.
Ein kommendes Zeitalter der Revolutionen?
Aber zunehmend regt sich Widerstand. Fabian Scheidlers Bücher zum Beispiel haben viel Aufmerksamkeit gefunden, und er sieht nun ein „Zeitalter der Revolutionen“ bevorstehen. Aber wohin zielen die Revolutionen, was wollen sie erreichen? Gibt es doch eine Alternative?
Scheidler beschreibt sie etwa so: „In einem Wirtschaftssystem mit gemeinwohlorientierten Eigentumsverhältnissen, Rechtsformen und Rahmenbedingungen wäre das jedoch nicht unbedingt ein Problem. Denn Investitionen sind dann nicht von Profitaussichten abhängig, sondern vom gesellschaftlichen Nutzen. Wenn weniger produziert werden muss, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, könnten die frei werdenden Kapazitäten in Arbeitszeitverkürzungen umgesetzt werden. Um das wiederum zu ermöglichen, braucht es eine massive Umverteilung der Einkommen, damit alle Menschen auch mit Halbzeitstellen gut leben können. Ein Land wie Deutschland könnte leicht mit der Hälfte seines jetzigen Produktionsvolumens ein gutes Leben für alle ermöglichen.“
Das klingt gut, ein „Wirtschaftssystem mit gemeinwohlorientierten Eigentumsverhältnissen“. Investitionen sollen dann nicht von „Profitaussichten“ abhängig sein, sondern vom „gesellschaftlichen Nutzen“. Solche Aussagen finden schnell breite Zustimmung, denn offensichtlich ist es ja genau das, was falsch läuft: die irrsinnig reich gewordenen Unternehmen suchen noch immer und immer weiter den Profit, statt ihre Vermögen dem gesellschaftlichen Nutzen zur Verfügung zu stellen.
Aber wer definiert den dann den gesellschaftlichen Nutzen, und wie genau ist der definiert?
In den westlichen Demokratien haben sich Institutionen etabliert, die in festgelegter Arbeitsteilung diesen „Nutzen“ bestimmen. Über den wirtschaftlichen Nutzen entscheidet zuerst einmal der Konsument, darin erfüllt sich seine Konsumentensouveränität. Seine Konsumentscheidungen liefern den Märkten Preissignale, und diese wiederum können Wirtschaftssubjekte wie Unternehmen auswerten, um Investitionsentscheidungen zu treffen. Da mischt der Staat sich kaum ein, das sind Vorgänge innerhalb der Märkte, und darum ist die Marktwirtschaft frei – weil sich der Staat eben nicht einmischt. Einschränkungen gibt es durch die Gesetzgebung etwa zu gesundheitlichen oder persönlichkeitsrechtlichen Belangen, oder Belangen des Jugendschutzes etc., und natürlich durch die Steuergesetzgebung, die progressive Einkommenssteuer. Aber nicht der Staat und auch sonst niemand legt fest, was gesellschaftlicher Nutzen ist. Ansonsten gibt es die Tarifpartner, die ihre Interessen frei aushandeln können, in einem gesetzlich festgelegten Rahmen, und dann gibt es eben den demokratischen Staat, der die Rechtsordnung schafft, und ihre Gültigkeit überwacht und durchsetzt.
Und wenn aber nun der „gesellschaftliche Nutzen“ staatlich oder behördlich festgelegt wäre, wäre die Frage, wer, welche Instanz diese Vorschriften denn umsetzt. Scheidler sagt, Investitionen sind dann nicht profitabhängig. Wer entscheidet denn über die Investitionen? wem gehören denn die Betriebe, sollen sie enteignet werden?
Scheidler möchte dann auch gleich den ganzen Welthandel neu gestalten. Er möchte ein „grundsätzlich anderes, zukunftsfähiges Handelssystem“, das die bestehenden „Prinzipien vom Kopf auf die Füße“ stellt:
1. Marktzugang bekommen nur Unternehmen, die in sozialer und ökologischer Hinsicht das Gemeinwohl und die Menschenrechte fördern. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette von den Rohstoffen bis zur Entsorgung berücksichtigt. Nicht profitorientierte Betriebe in Gemeineigentum werden bevorzugt.
2. Größe wird nicht belohnt. Stattdessen werden, wo immer dies ökologisch, sozial und ökonomisch sinnvoll ist, dezentrale, kleinteilige Strukturen gefördert.
3. Anstelle einer ständigen Ausweitung des Welthandels lautet das Ziel Regionalisierung – zum einen, um unsinnige Transport- und Umweltkosten zu sparen, zum anderen, um die Resilienz der Regionen gegenüber weltwirtschaftlichen Turbulenzen zu stärken. Das bedeutet nicht Abschottung und schon gar nicht Nationalismus, sondern ein vernünftiges Maß für Handelsströme, das sich am sozialen und ökologischen Nutzen orientiert.
4. Dazu gehört auch eine Stärkung des Subsidiaritäts-Prinzips: Handelsabkommen dürfen die Fähigkeit von Gemeinden und Regionen, gezielt lokale, ökologische Wirtschaftskreisläufe zu fördern, nicht behindern. Das betrifft auch die öffentliche Auftragsvergabe, die, anders als etwa in den gegenwärtigen EU-Verträgen, keinem überregionalen Ausschreibungszwang unterworfen werden darf.
5. Die öffentliche Daseinsvorsorge muss wirkungsvoll vor kommerziellen Verwertungsinteressen geschützt werden. Der Zugang zu sauberem Wasser, gesunder Nahrung, angemessenem Wohnraum, Energie, Kommunikation, Transport, Bildung, Gesundheit und Kultur darf von Handelsverträgen nicht beeinträchtigt werden.
6. Grenzüberschreitende Investitionen unterliegen demokratischer Kontrolle. Sonderrechte für Investoren existieren nicht, Kapitalverkehrskontrollen sind uneingeschränkt möglich.“
Das sind lauter weitreichende und fromme und ohne Zweifel wohlgesonnene Forderungen, aber sie gehen vollkommen an der Frage vorbei, wer, welche nationalen oder globalen Institutionen derartiges denn wohl durchsetzen sollten. Wer um Himmels Willen soll denn darüber entscheiden, ob Unternehmen Marktzugang erhalten, und, ob sie „in sozialer und ökologischer Hinsicht das Gemeinwohl und die Menschenrechte fördern“? Und wie will man etwa durchsetzen, dass „Grösse nicht belohnt“ wird? Wer soll kleinteilige Strukturen fördern, und wie? mit Steuermitteln, die die kleinteiligen Strukturen aufbringen? Die Punkte 3, 4 und 5 sind ja ohne Zweifel sinnvoll und wünschenswert, aber wie will man sie eben durchsetzen? per Gesetzgebung?
Es besteht hier die Gefahr, dass zu einem an sich berechtigten Anliegen die Mittel fehlen, und dann ist die Gefahr immer gegeben, dass zu Mitteln gegriffen wird, die im Rahmen eines aufgeklärten modernen Rechtsstaates nicht zu legitimieren und zu rechtfertigen sind, und dass dann schnell Entwicklungen und Ströme des gesellschaftlichen Handelns eingeleitet sind, die die an sich gute Absicht in ihr Gegenteil verkehren. Dann kann das „Zeitalter der Revolutionen“ eben auf eine Weise turbulent werden, dass man sich vor ihm am Ende genauso fürchten müsste wie vor den Folgen eines sich weiter ungezügelt fortentwickelnden Spätkapitalismus.
Für eine wissenschaftsgestützte gebrauchswertorientierte Transformation der industriellen Produktionsstrukturen
Aber was kann man dann tun – eben die Möglichkeiten erkennen und ergreifen, die die den Kapitalismus an das Ende seiner Entwicklungsmöglichkeiten treibende Technologie freundlicherweise ja schon ganz von selber hervorbringt. Mit dieser Technologie werden ja genau diese Tendenzen unterstützt, zur Regionalisierung und zur Entstehung lokaler Kreisläufe. Und erst durch diese Technologie wird es möglich, gemeinnützige, am öffentlichen Gemeinwohl interessierte Betriebe zu entwickeln, die nicht Kapitalinteressen unterworfen sind. Solche Betriebe entstehen aber nicht dadurch, dass man bestehende Betriebe einfach verstaatlicht, und sie zu einem Handeln zwingt, das sie über kurz oder lang nicht überleben werden. Ein solche Entwicklung könnte über kurz oder lang nirgendwo anders hinführen als in die DDR, oder ins Nirwana.
Die Gesellschaft wird die Kraft und den Willen aufbringen müssen, diese Technologie aufzugreifen und fortzuentwickeln. Nur so wird der Umbau der Industriegesellschaften ermöglicht und erfolgreich durchgeführt werden können, nur so ist eine transformatorische Perspektive möglich, die die Errungenschaften der aufgeklärten Kultur und des Rechtsstaates beibehält, und die in ökonomischer Hinsicht als eine Höherentwicklung zu verstehen ist. Vor diesem Problem stehen die Gesellschaften. Die Lösung dieses Problems ist die 100.000-Dollar-Frage.