Tragisches Palästina

Das kleine Land Israel ist seit dem 7. Oktober 2023 Schauplatz einer unvorstellbar grausamen und blutigen Tragödie. Die palästinensische Organisation Hamas, die nach jahrelangen erbitterten Auseinandersetzungen unter anderen islamistischen Gruppierungen in Palästina im Jahr  2007 im Gaza-Streifen die Macht übernommen hatte, hat an diesem Tag einen bis dahin unvergleichlichen Schlag gegen Menschen aus Israel geführt, dem allein an diesem Tag rund 1.200 Zivilpersonen und Sicherheitskräfte zum Opfer fielen. An diesem Tag, einem Sabbat und dem letzten der sieben Tage des Laubhüttenfestes, wurden über 2.200 Raketen auf Israel abgefeuert; die Kämpfer der Hamas durchbrachen an vielen Stellen die meterhohen Absperrungen der Grenze und machten sich auf zu Fuß, mit Motorrädern, Pickups oder privaten Pkw zu einer Reihe von grenznahen Dörfern und Kibbuzen, um die Menschen dort zu überfallen und sie, sofern sie nicht gleich getötet wurden, hinter die Absperrungen im Gaza-Streifen zu verfrachten und sie da als Geiseln zu nehmen.

Der an diesem Tag begonnene Krieg Israels gegen die Hamas dauert nun bis zur Stunde an, und das Leid, das die Hamas begonnen und verschuldet hat und das nun die Zivilbevölkerung zu tragen hat, sprengt alle Dimensionen; der nun täglich in alle Welt übertragene Anblick von blutenden, leidenden, sterbenden, zerfetzten und zerrissenen Leibern von Männern und Frauen, von Alten und Jungen, von Jugendlichen, Kindern und Säuglingen ist schier unerträglich.

Dass die Hamas dieses Blutvergießen begonnen und verschuldet hat, steht nun für die weit überwiegende Mehrheit aller Zeitgenossen außer Frage. Aber, wie der UN-Generalsekretär Antonio Guterres nach einigen Tagen des Konterfeldzuges der Streitkräfte Israels, der IDF, dann feststellte, hat dieser Krieg eine Vorgeschichte. Die Angriffe der radikalislamischen Palästinenserorganisation seien „nicht im luftleeren Raum erfolgt“, wie Guterres sagte; die Palästinenser würden seit 56 Jahren unter „erstickender Besatzung“ leiden.

Wie ist es also zu dieser Besatzung gekommen? Darum, um diese – sehr lange – Vorgeschichte der Geschichte Israels und Palästinas soll es nun gehen in diesem Beitrag.

Die Balfour-Deklaration

Bevor es den Staat Israel gab, ausgerufen am 14. Mai 1948 von David Ben-Gurion, damals Führer der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei Israels, gab es das Land Palästina, das aber keineswegs ein unabhängiger souveräner Staat war. Palästina gehörte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Osmanischen Reich, und nachdem der Erste Weltkrieg gewonnen war, kam Palästina im Oktober 1917 unter britische Verwaltung. Die Bevölkerung Palästinas war zu der Zeit zusammengewürfelt aus arabischen und jüdischen Volksgruppen, dabei mit einem deutlich kleineren Anteil für die jüdische Bevölkerung. 

Vorher, in den 1880er Jahren, begann der französisch-jüdische Baron Edmond Rothschild sich für den aufkommenden Zionismus einzusetzen. Er erwarb systematisch Grundstücke in Palästina; 1889 übergab er 25.000 Hektar palästinensischen Agrarlandes und die sich darauf befindenden Ansiedlungen an die Jewish Colonisation Association. Diese Organisation, gegründet 1891 von dem jüdischen Bankier, Unternehmer und Philanthropen Baron Maurice de Hirsch, hatte nicht nur Palästina im Sinn, sondern verfolgte den größeren Plan, eine massenhafte Auswanderung von Juden aus Russland und anderen osteuropäischen Ländern zu erleichtern, indem sie Ländereien in Nordamerika (Kanada und den Vereinigten Staaten), Südamerika (Argentinien und Brasilien) und eben auch im osmanischen Palästina aufkaufte, um diese Menschen dort in landwirtschaftlichen Kolonien anzusiedeln. Motiviert wurde diese Auswanderungsbewegung auch durch in Russland und Osteuropa in dieser Zeit häufig vorkommende Progrome und antisemitische Ausschreitungen.

Ein wesentlicher Faktor dieser Bewegungen zur An- und Umsiedlung jüdischer Menschen aus Osteuropa war der schon erwähnte Zionismus, eine von dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller, Publizisten und Journalisten Theodor Herzl 1896 mitgegründete Bewegung, die, wie es die Bundeszentrale für politische Bildung knapp formuliert, das „Ziel der Rückführung der in aller Welt lebenden Juden in das Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan“ verfolgte. Am 29. August 1897 wurde ein Kongress in Basel einberufen: 200 gewählte Delegierte kamen damals zum „Ersten Zionistenkongress“ zusammen, um ihre Pläne und Ideen zu besprechen und zu koordinieren. Ein Teilnehmer des Kongresses war neben anderen der zionistische Aktivist Chaim Weizmann, der später im Zusammenhang mit dem verfolgten Plan zur Staatsgründung Israels eine wichtige Rolle spielte.

Unterstützt wurden diese Pläne also von reichen jüdischen Förderern und Philanthropen, unter ihnen auch Angehörige des britischen und französischen Zweigs der Familie Rothschild.

Ein wesentlicher Anstoß zur Realisierung dieser Pläne kam also aus der Zionistenbewegung, und Walter Rothschild, 2. Baron Rothschild und auch Zionist, hatte Kontakte zur britischen Krone aufgenommen und sich um Unterstützung für diese Pläne bemüht. Der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour sandte nun mit dieser förmlichen „Balfour-Deklaration“ dem Baron Rothschild die Antwort der britischen Regierung zu, die eine Zusage der britischen Krone für die Unterstützung der zionistischen Bewegung enthielt. ( https://de.wikipedia.org/wiki/Balfour-Deklaration )

Aber was würde das bedeuten für Palästina und das auf diesem Landstück lebende Völkergemisch? Die Balfour-Deklaration enthielt eine „Erklärung der Sympathie“ des britischen Königs mit der zionistischen Bewegung und ihrem Plan der „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“. Dies geschah aber mit der einschränkenden „Maßgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“

So war die Absicht. Aber – war mit dieser Erklärung nicht schon der Keim gelegt für die späteren, bis heute andauernden Streitigkeiten in diesem Land? Die Zionisten, die vom biblischen gelobten Land träumten und von Jahrhundert zu Jahrhundert von Zionssehnsucht getrieben waren, hatten sicher – offen oder insgeheim – andere Pläne, als anderen bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina Wohnung und bürgerliche und religiösen Rechte zuzugestehen.

Es wäre aber doch zumindest recht und billig gewesen, allen in Palästina lebenden und den später dazu kommenden Menschen diese gleichen bürgerlichen und religiösen Rechte einzuräumen und zu garantieren – wenn die verantwortlichen Mächte, also die Briten, es auch so gewollt und durchgesetzt hätten. Es hätte eigentlich keinen Streit geben müssen.

Aber es kam anders.

Das Sykes-Picot-Abkommen und seine Folgen

1916 wurde in einem geheimenen britisch-französischen Abkommen eine Vereinbarung getroffen, das Osmanische Reich in Interessensphären aufzuteilen; publik gemacht wurde dieses Abkommen 1918 von den russischen Bolschewiki. Die Briten übernahmen damit die faktische Regierungsgewalt über Palästina, was den langfristigen britischen Interessen in dieser Region entgegenkam. Ein Palästina unter britischer Herrschaft war ein ideales Verbindungsstück zu den britischen Einflusszonen im Mittleren Osten und der wichtigsten britischen Kolonie, Britisch-Indien, und der Suezkanal, die Hauptader britischen Handels mit Asien, würde dadurch ebenfalls besser gesichert werden können.

Damit begann sich abzuzeichnen, dass der Einfluss der nicht-jüdischen Bevölkerung im Laufe der Zeit unweigerlich schwinden würde; im Laufe der Zweiten Weltkriegs und im Zuge der Erfahrung des Holocaust in NS-Deutschland strömten jüdische Menschen umso massenhafter nach Palästina. Das Ergebnis war eben das: dass die bürgerlichen und religiösen Rechte der nicht-jüdischen Gemeinschaften den Machtinteressen der Briten und der zuströmenden jüdischen Gemeinschaften mehr und mehr geopfert wurden. Mit der Staatsgründung am 14. Mai 1948 wurde dieses Schicksal dann praktisch besiegelt.

Das Ende des gelobten Landes

Was war aber nun die Wurzel der Zionssehnsucht, und des Traums vom Gelobten Land? In seiner langen bewegten Geschichte hat das jüdische Volk viel Leid erlitten, und nach Verbreitung des christlichen Glaubens in die Welt wurde dieses Schicksal mit seinen wesentlichen Erzählungen aus der jüdischen Bibel des Alten und dann des Neuen Testament aller Welt geläufig. Das jüdische Volk hat, wie jeder weiß, schmerzhafte Vertreibung und Unterwerfung erlitten, in Babylonien und Ägypten; vor der Ausbreitung des römischen Imperiums haben die Juden in Galiläa und Judäa dann lange Zeit Freiheit und Unabhängigkeit genossen, bis sie dann um 63 v. Chr. als „Römisches Palästina“ – wenn auch bei verschiedenen Graden von Unabhängigkeit – doch wieder unterworfen wurde, nun also vom Imperium Romanum. Damit erlitten sie ein Schicksal, das damals so gut wie der gesamte bekannte Erdenkreis zu erdulden hatte: wenn ein Volk sich dem Imperium nicht beugte, drohte es unterzugehen und seine kulturelle Identität und Geschichte als Volksgemeinschaft zu verlieren, oder es musste Wege finden, sich mit dem Imperium zu arrangieren.

Vor der gleichen Aufgabe stand also auch das Volk der Juden. Der damalige König Herodes stand mit seinem Reich unter römischer Herrschaft, war aber zugleich weltliches und religiöses Oberhaupt aller Juden in Palästina, wie auch in der jüdischen Diaspora. Er hätte sich also arrangieren können, und auch wollen, aber: das Volk war widerspenstig. Im Jahr 66 n. Chr. war es dann soweit, die jüdischen Zeloten versuchten einen Aufstand gegen das Römische Reich, und der endete im Jahr 70. Das Ende war verhängnisvoll und blutig: es bedeutete den endgültigen Fall Jerusalems und die Zerstörung des Tempels des Herodes.

Der Eroberung und Zerstörung Jerusalems gingen lange und erbitterte Streitigkeiten zwischen verschiedenen Widerstandsgruppen gegen die römische Besatzung voraus. Dabei standen sich zwei Lager gegenüber: die einen wollten weiter kämpfen, während die anderen, Gemäßigte um den Hohepriester, auf Verhandlungen setzten. Aber es kam zum Streit; es wurde ein Ende der Verhandlungen gefordert, und man bezichtigte den Hohepriester und die Gemäßigten des Versagens und des Verrats, dabei wurden die Gemäßigten gefangen genommen und später umgebracht. Nach dem Tod der gemäßigten Führer und des Hohepriesters entstand aber nun ein Machtvakuum, in dem sich all diese rivalisierenden Extremisten um die Vormacht in Jerusalem stritten, und diese Streitigkeiten endeten in einem verheerenden, alles vernichtenden Blutbad.

Die Eroberung der Stadt bedeutete für die jüdische Bevölkerung also den endgültigen Verlust ihrer politischen Autonomie, und der allmähliche Exodus aus Stadt und Land begann. Die seit 44 v. Chr. bestehende römische Provinz Judaea erhielt einen Statthalter mit einer ständig stationierten Legion.

Die uralte Kollektivschuld der „Extremisten“

Das heißt also: diese „Extremisten“ hatten sich – bzw. ihren zeitgenössischen Mitmenschen und allen Nachgeborenen – das Ende und den Verlust des „gelobten Landes“ letztlich selbst zuzuschreiben: sie waren – schuldig – aus dem Paradies vertrieben. Es begann damit das entbehrungsreiche Dasein des überall fremden, vertriebenen, oft mißachteten, unterdrückten und in Gettos eingepferchten Volkes in der Diaspora.

In der alten, nun verlassenen jüdischen Heimat dagegen begann sich eine neue Kultur auszubreiten; muslimische Araber errichteten schließlich im Jahr 691 auf dem Tempelberg in Jerusalem den Felsendom. Von diesem Zeitpunkt an gab es neben einer jüdischen und einer christlichen also auch eine muslimische Präsenz in Palästina.

Die Juden in der Diaspora mussten ihr Vertriebenenschicksal auf sich nehmen, aber sie haben den alten Traum vom gelobten Land dennoch nie aufgegeben. Über die Jahrhunderte schafften es einige jüdische Familien mit großem Fleiß und Beharrlichkeit, zu sehr viel Geld, großem Reichtum, und zu Achtung und Einfluss zu kommen, und schließlich kam auf diesem Wege auch wieder die Möglichkeit der Wiedergewinnung der verlorenen Heimat in Sicht. An dem Punkt, auch mit dem gewonnen Erfolg, Wohlstand und Reichtum der Mitglieder des damaligen zionistischen Weltkongresses, begann also die Geschichte, die sich dann, wie gesehen, in der Folge der Balfour-Deklaration entspann.

Die damals vertriebenen Juden betrachteten dieses Land also als Verheißung, als das ihnen „von Gott“ versprochene gelobte Land. Aber sie hatten dieses Land nun über viele Jahrhunderte verlassenen, und andere Menschen haben sich angesiedelt. Mit welchem Recht kann man sie jetzt wieder daraus vertreiben?

Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten mag es legitim erscheinen, dass diese Menschen, die eben immer wieder unter antisemitistischem Judenhass, Gewalt, Vertreibung und Progromen gelitten haben, die angestammte Heimat ihrer Vorväter wiederfinden. Aber ein Recht auf dieses Land, vor allem nicht gegen den Willen der dort schon lebenden Bevölkerung, lässt sich daraus nicht ableiten. Möglich wäre natürlich Zuwanderung, wie in jedem anderen Einwanderungsland auch – aber zu gleichen Rechten, und unter rechtlich angemessenen Bedingungen. Das hätte bedeutet, dass die sich da in diesem Land einfindenden Menschen gemeinsam eine politische Verwaltung und Einheit bilden, und auf mittlerweile weltweit üblichem Wege durch demokratische Wahlen ihre Verhältnisse regeln. So hätte natürlich auch ein Staat entstehen können – aber wohl nicht als separater Staat Israel, sondern als gemeinsamer Staat Palästina. Mit vielleicht mehr oder minder starker, den Mehrheitsverhältnissen angemessener jüdischer Beteiligung.

Aber das war wohl nicht gewünscht. Dazu kommt der Umstand, dass ein sachliches, modernes, säkulares, rationales Verhältnis zur politischen Gestaltung unter diesen Bedingungen wohl nur schwer möglich ist – sofern diese außerrationalen, aus religiösen oder geschichtlichen Bindungen herrührenden Motivlagen weiter eine so dominante Rolle spielen. Was noch eine Rolle spielen mag oder jedenfalls spielen könnte, sofern Menschen dem eine Bedeutung beimessen: ein gelebtes Selbstverständnis als „Gottes auserwähltes Volk“. Wenn so etwas in der politischen oder gesellschaftlichen Motiv- und Entscheidungsbildung eine Wirkung entfaltende Rolle spielt, ist ein Zusammenleben natürlich erheblich vorgelastet. Hoffen kann man darum wohl nur darauf, dass Vernunft und Rationalität Oberhand gewinnen – wie es sich in den Wochen und Monaten vor der Zuspitzung dieses Konfliktes ja abzuzeichen schien.

Wie die Geschichte dieses – leider mehreren Völkern zugleich – gelobten Landes endet, muss darum wohl vorerst als unentschieden bestrachtet werden.

 

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