Durfte das Ende der Arbeit nicht kommen?
Ein Artikel über das verhinderte Ende der Arbeit könnte so beginnen, mit dieser Fragestellung, und es ginge dann inhaltlich um die wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Normalverlaufs der industriekapitalistischen Entwicklung, deren Normalverlauf zum Ende der Arbeit geführt hätte, der aber gestört wurde. Dass der Verlauf gestört wurde, wäre die These dieses Artikels.
Aber wer oder was hat den Verlauf gestört? Und mit der Bearbeitung der Antwort würden sich Thema und Fragestellung wandeln, und plötzlich fände man sich in einem Krimi wieder, der auf der großen Weltbühne sich abspielt. Ende November gab es den Artikel von Tom-Oliver Regenauer über die „Dritte Kultur“ der Tech-Avantgarde, die „die Zukunft gestalten“ möchte. Wer möchte die Zukunft gestalten: John Brockmans Edge-Foundation und die Genies der Gegenwart, die „glorreichen Sieben“ von Bezos, Musk bis Jeffrey Epstein: „Mit ihren Plattformen, Produkten und Smartphone-Apps dominieren sie Medienlandschaft, Konsum, persönliche Kommunikation, digital-soziale Räume, nachrichtendienstliche Aktivitäten, künstliche Intelligenz (KI) und in zunehmendem Maße auch den Finanzmarkt“, schreibt Regenauer. Was heute die Welt regiert, sei die „Plattform-Plutokratie. Der digital-zensorische Komplex. Die größte Social-Engineering-Maschinerie aller Zeiten.“ Das Unschöne und etwas Unheimliche dabei: die Geheimdienste mischen mit bei der „Dritten Kultur“: „Von der Start-up-Finanzierung über die Rekrutierung von Ex-Agenten bis zum Austausch von Computerchips, die Spionage erleichtern, ist alles dabei. ‚Die Zusammenarbeit zwischen Tech-Industrie und Geheimdiensten ist enger, als die meisten Menschen denken‘, so Reuters.
Was den „Normalverlauf“ der kapitalistischen Entwicklung angeht: „.. die Schaffung dieser unheiligen Allianz (war) nicht allein betriebswirtschaftlich motiviert. Denn schon im 17., 18., und 19. Jahrhundert nutzten die Finanzkartelle Medien, Staat und Wirtschaft, um den Lauf der Dinge zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“ Das ist teilweise richtig, dennoch: dass es den Normalverlauf so oder so gegeben hat, lässt sich anhand einschlägiger Daten klar belegen (mit dem Thema geht es unten gleich weiter).
Im Laufe der Normalentwicklung gab es natürlich auch technische Revolutionen, und die wurden nicht nur von industriellen „Schumpeterschen Unternehmern“ hervorgebracht: „Technologische Revolutionen werden Dekaden, bevor sie eintreten, antizipiert, durchdacht, angekündigt und visualisiert. Nicht zuletzt von Hollywood, der laut Edward Bernays „größten Propagandamaschine der Welt“. Regenauer schreibt: „Klassische Propaganda beruht auf den Standardwerken von Walter Lippmann (1922) und Edward Bernays (1928).“ Und tatsächlich wurde die klassische Propaganda von diesen beiden Herren schon damals auch dazu eingesetzt, den Normalverlauf der industriekapitalistischen Entwicklung im Interesse des Kapitals zu beeinflussen: sie (hauptsächlich Walter Lippmann) waren beteiligt an der Erfindung des Neoliberalismus.
Heute sind die Propagandisten klüger und raffinierter geworden: „Denn im Zeitalter des fortgeschrittenen Informationskrieges ist Nudging („sanfte Lenkung“) die sozialarchitektonische Königsdisziplin, um Menschen dazu zu bringen, etwas zu unterstützen, das ihnen nichts bringt oder sogar schadet.“ Die Propagandisten sind dabei noch immer die gleichen wie vor 100 Jahren – wenn man genauer hinschaut.
Warum haben heute „weder Klaus Schwabs „Stakeholder Kapitalismus“ noch seine „Vierte Industrielle Revolution“ etwas mit Kapitalismus oder Demokratie zu tun“?
Doch, sie haben schon damit zu tun. Im „Großen Spiel“ des Nomalverlaufs der industriekapitalistischen Entwicklung geht es schon auch um die (lohnabhängige) Wertschöpfung, und um die Mehrwertproduktion, also die Erzeugung von Kapitalgewinnen, und die im Normalverlauf abnehmenden Investitionen, sinkende Zinsen, sinkende Beschäftigung und sinkende Gewinne – das beschreiben John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter, als Normalverlauf der Entwicklung.
Den „Kaderschmieden“,von denen Regenauer schreibt, geht es letztlich (auch) darum: die „Kaderschmieden sind mittlerweile hinlänglich bekannt. Da wäre zum Beispiel das zu fragwürdigem Ruhm gelangte Young Global Leaders Programm des Weltwirtschaftsforums (WEF), das neben knapp 3.800 weiteren Absolventen auch Angela Merkel, Tony Blair, Gordon Brown, Nicolas Sarkozy und Bill Gates auf ihre Karrieren in der „regelbasierten internationalen Ordnung“ vorbereitete. Ein weiterer WEF-Absolvent ist Lawrence Summers, US-Finanzminister unter Bill Clinton, nationaler Wirtschaftsberater unter Barack Obama und von 1991 bis 1993 Chefökonom der Weltbank.“ Lawrence „Bill“ Summers ist der Ökonom, der die Hypothekenkrise der 2007er Jahre „erfunden“ hat, und erheblich dazu beigetragen, dass der Normalverlauf der industriekapitalistischen Entwicklung empfindlich von seinem Kurs abgebracht worden ist. Wie nebenbei wurde der Staat ausgeraubt, und die privaten Vermögen der Vermögenden explodierten.
Was früher Propagandisten wie Walter Lippmann und Edward Bernay waren, sind heute Propagandisten anderer Art, von denen Regenauer einige nennt: die „Evolutionsbiologen Richard Dawkins und Steven Pinker, der Philosoph Daniel Dennett, der Kosmologe Martin Rees, die biologische Anthropologin Helen Fisher, der Ökonom, Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der Quantenphysiker David Deutsch, der Computerwissenschaftler Marvin Minsky oder der Sozialtheoretiker Anthony Giddens.“
Walter Lippmann war Mitgründer der Mont-Pèlerin-Society (und damit des Neoliberalismus) und des „Council on Foreign Relations“, und damit war er an erster Stelle mitveranwortlich für die Fehlleitung des Normalverlaufs der industriekapitalistischen Entwicklung. Dass heute die „Global Leaders“ alle in diesem Konzert mitsingen, ist ein spätes Verdienst auch dieser Alt-Propagandisten.
Nun kann es ersteinmal weitergehen mit der (rein wirtschaftswissenschaftlichen) Frage, warum das Ende der Arbeit vergessen wurde. Dieser Frage hat sich ein in jahrelanger Arbeit ein Forschungsinstitut gewidmet, um das es im Folgenden geht. Am Ende landet die Fragestellung wieder bei der verborgenen „Dritten Kultur“:
Ist das Ende der Arbeit vergessen worden?
Im September 1978, vor einem halben Lebensalter, schrieb der Soziologe Ralf Dahrendorf in der ZEIT: „Was tut die Arbeitsgesellschaft, wenn ihr die Arbeit ausgeht? Die Frage hat Hannah Arendt schon vor 20 Jahren gestellt, die Antwort könnte wohl zu einem Kernproblem der Gesellschaftspolitik der Zukunft werden.“ Wenn uns die Arbeit ausgeht, schrieb Dahrendorf, verlangt „die Zukunft“ neue Gestaltung des sozialen Lebens. (Dahrendorf 1978)
Vier Jahre später schrieb Dahrendorf, ebenfalls in der ZEIT: „Die Arbeitsgesellschaft ist am Ende. Wer immer verspricht, ein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit zu haben, sagt die Unwahrheit.“ ( Dahrendorf 1982 ) Gegen Friedrich von Hajek argumentierte Dahrendorf: „Friedrich von Hayek hat argumentiert, daß es in einer echten Marktwirtschaft keine Arbeitslosigkeit geben könnte; der Preis der Arbeit würde sich auf einer Höhe einpendeln, die allen Beschäftigung verschafft. Das ist allerdings, um mit Gottfried Bombach zu sprechen, ‚ebenso logisch wie utopisch‘ und übrigens in einer Gesellschaft von Staatsbürgern, die auch soziale Rechte haben, schwer erträglich.“ Friedrich von Hayeks also schon damals als „schwer erträglich“ und ebenso irrational wie asozial empfundene Marktlogik der zum Marktpreis käuflichen Arbeitskraft würde bedeuten, dass „der Preis der Arbeit“ sich auch irgendwann bei Null einpendelt – wenn er nur weit genug gesenkt wird. Dann werden die Menschen wie von Sinnen einkaufen und das „Bruttosozialprodukt“ wieder so weit steigern, wie die Kapazitäten der Müllabfuhr eben ausreichen, um „den ganzen Plunder“ zu entsorgen, der nun in ausreichender Höhe produziert werden kann, um allen Beschäftigung zu verschaffen. Darüber hat sich damals schon die Band „Geier Sturzflug“ mit ihrem gleichnamigen Hit zu Recht lustig gemacht.
Dahrendorf schrieb damals, die Erwägungen zur Arbeitslosigkeit führen „zu zwei Schlüsselfragen. Die Arbeitslosigkeit ist nur der sichtbare Ausdruck einer viel weitergehenden Reduktion der Arbeit in modernen Gesellschaften. Immerhin hat sie zu einer öffentlichen Diskussion Anlaß gegeben, die zeigt, daß vertraute Methoden uns nicht mehr weiterhelfen. Der Weg zurück zur Arbeitsgesellschaft ist uns verbaut. Warum ist das so? Was ist es an der Arbeitsgesellschaft, das uns in die heutige Lage geführt hat? Und dann, weit schwieriger noch: Welche Alternativen gibt es denn zur Arbeitsgesellschaft? Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Arbeit beginnt?“
Heute, am Ende des Jahres 2024 und nach einer hinter uns liegenden Jahrtausendwende, ist eine Antwort immer noch so fern wie vor über 40 Jahren.
Neue Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit hat es – versuchsweise – immerhin gegeben. Im VW-Konzern etwa wurde die Regelarbeitszeit verkürzt, und ab 1995 arbeitete Volkswagen nur noch 28,8 Stunden, wobei die Arbeitszeit der Nachfrage angepasst werden konnte, also in dem Fall steigen konnte. Das Manager-Magazin schrieb im Juli 2002, nach einigen Jahren der Erfahrung mit diesem Modell: „Die mutigen Ideen des Peter H.
Aus den zahlreichen Projekten innovativer Personalpolitik von Volkswagen können andere Unternehmen viel lernen“ ( Peter Harz ) Peter Harz war damals also noch „mutig“ – später wurde ihm der Mut beschnitten, aber dazu gleich.
Der Artikel des Manager-Magazins beschrieb damals die Hintergründe dieser Geschichte: „1993 steckte der VW-Konzern in einer existenziellen Krise. Zu hohe Kosten, 30.000 Menschen zu viel in den Werken. Die Lösung von Personalvorstand Peter Hartz: Radikale Arbeitszeitverkürzung um 20 Prozent auf 28,8 Stunden pro Woche. Keiner der 100.000 VW-Beschäftigten in Deutschland verlor seinen Job, aber alle mussten sich mit 15 Prozent weniger Jahreseinkommen abfinden.“ Peter Hartz erfand das Modell der „atmenden Fabrik: „Weil die starre Vier-Tage-Woche bei VW zu Engpässen führte, lässt Hartz jetzt die Fabriken ‚mit der Auftragslage atmen‘. Seit 1995 arbeitet Volkswagen bei mäßiger Nachfrage 28,8 Stunden. Häufen sich die Aufträge, steigt die Arbeitszeit auf bis zu 38,8 Stunden. Das Ungewöhnliche an diesem Tarifmodell: Die Beschäftigten erhalten für Mehrarbeit nicht automatisch Zuschläge. Erst wenn sie über einen längeren Zeitraum – etwa ein Jahr – mehr als 35 Stunden pro Woche arbeiten, zahlt der Konzern Überstundenzuschläge.“ Das Manager-Magazin war voll des Lobes für die neuen Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit.
Nur vier Jahre später schrieb der Spiegel: „VW will 28,8-Stunden-Woche kippen“. Über die Gründe hieß es: „‚Wir haben die Rückkehr zur 35-Stunden-Woche vorgesehen‘, sagte VW-Personalvorstand Horst Neumann am Montag in Hannover nach Sondierungsgesprächen mit der IG Metall. ‚Der Weg dorthin muss noch weiter ausgearbeitet werden‘. Angesichts massiver Kostenprobleme hat Volkswagen damit zum ersten Mal offiziell von seinen Mitarbeitern die Rückkehr zur 35-Stunden-Wochen ohne Lohnausgleich gefordert.“
Der Ruhm des mutigen Peter Harz verblasste plötzlich schlagartig, fast zur gleichen Zeit: „Der tiefe Fall des Peter Harz“, schrieb der Spiegel am 7.10.2005. „Er galt als großer Innovator der bundesdeutschen Arbeitswelt, entwarf Kernpunkte von Schröders Agenda 2010 und sorgte als Personalvorstand lange Jahre für Frieden bei Volkswagen. Jetzt stellt die Staatsanwaltschaft Peter Hartz im Zusammenhang mit der VW-Affäre nach.“
Peter Harz war vom VW-Chef Ferdinand Piëch 1993 zum Personalvorstand des Autokonzerns ernannt worden. Ferdinand Piëch war jemand, den der Spiegel damals porträtierte als einen Mann, der sich „auf dem Höhepunkt seiner Macht“ „im permanenten Kriegszustand“ befand. Was war dann Piechs Beitrag zur „neuen Gestaltung des sozialen Lebens“, als der Konzern zu hohe Kosten und zu geringe Gewinne und Renditen melden musste: die Erfindung des 12-Marken-Konzerns VW, mit Super-Luxus-Automobilen wie Bugatti, Bentley und Lamborghini. Zur Lösung des Problems mit mangelnder Nachfrage nach „dem ganzen Plunder“ konnte man auf die Weise einen originellen, und im Sinne der abzuliefernden Dividenden an die Konzerneigner lobenswerten Beitrag liefern; das Problem mit der Beschäftigung war ebenfalls gelöst. Man könnte sich bei dem Gedanken ertappen, dass Peter Hartz für Piëchs Kriegszustandsideen wohl nicht mehr der richtige Mann war, und darum kurzerhand zum „tief Fallen“ bestimmt worden ist.
Horst Neumann und das IGZA
Der damalige Personalvorstand Horst Neumann blieb auf diesem Posten bis zur Pensionierung 2015. Der erfolgreiche VW-Manager, der im Laufe seiner Karriere den Gewerkschaften auf die eine oder andere Weise immer verbunden blieb, war privat 10 Jahre lang liiert mit der zeitweiligen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles, die in ihrer Jugend tief dunkelrot gefärbt war, wie man ohne zu übertreiben wohl behaupten darf. Auf eine gewisse Sympathie zu linken, zumindest gewerkschaftsnahen Ideen zu schließen dürfte nicht aus der Luft gegiffen sein.
Nach seiner Pensionierung, üppig versorgt mit langjährigen Vorstandsgehältern und -boni, gründete Horst Neumann ein kleines privates Institut zur Erforschung der Geschichte und der Zukunft der Arbeit, mit Namen IGZA. Der Anspruch dieses Insitutes und sein Forschungsprogramm sind durchaus anspruchsvoll: es sollte die gesamte Früh- und Kulturgeschichte der Arbeit erfassen und dokumentieren, also ein Anspruch, bei dem man sich durchaus den Erfinder der Entwicklungsgeschichte mit ihren Stufen, Brüchen und Abfolgen mit Namen Karl Marx als Ideengeber vorstellen kann. Wie auch Karl Marx beschrieb das IGZA die Entwicklungsgeschichte der Arbeit (und später des Kapitals) als getrieben vor allem von der Entwicklung der Arbeitsproduktivität.
Was die Arbeit des IGZA von anderen Forschern und Forschungsansätzen unterscheidet: das IGZA hat die Geschichte der Arbeit enorm umfassend und detailreich dokumentiert und belegt, am Ende enstand so eine riesige Sammlung von Dokumenten und Abbildungen in 7 Bänden zu je etwa 370 Seiten. (Matrix der Arbeit)
Das IGZA hat diese Entwicklung, deren Spätphase also mit dem oben beschriebenen „Ende der Arbeit“ ab den 1970er Jahren begann, beschrieben; naheliegenderweise würde das Institut, das sich seinem Namen nach ja auch mit der Zukunft der (verschwindenden?) Arbeit beschäftigt, das Problem einer „neuen Gestaltung des sozialen Lebens“ zu lösen haben, oder zumindest Ansätze zu seiner Lösung vorstellen müssen.
Die Geschichte der Arbeit in fünf Folien
Das IGZA hat im November 2017 ein „Arbeitspapier“ mit den bisherigen Ergebnissen seiner Forschung vorgestellt, mit dem Titel „Geschichte und Zukunft der Produktivität:
Ende oder Halbzeit eines großen Spiels?“ Das „Große Spiel“ ist das, worum es geht, wenn die Geschichte im Kapitalismus angekommen ist, und die große Frage, die sich dann stellt, ist die: stehen wir am Ende der Arbeit und der Gewinne, oder nur bei einer (zweiten) Halbzeit des Großen Spiels? Kann es, zumindest bis zum dann endgültigen Ende des großen Spiels, noch eine zweite Halbzeit geben?
Das Arbeitspapier entstand damals auch unter dem Eindruck der Veröffentlichung von Robert Gordons Opus Magnum: „The Rise and Fall of the American Growth“. Gordon belegt in seinem umfangreichen Werk, wie dieser Aufstieg zustandekam, und wie er sich nun wieder seinem Ende nähert – nach 700 Jahren. Dieses Fallen der Wachstumskurve dürfte kein Zufallsereignis sein, kein Ergebnis einer der vielen zufälligen Konjunkturschwankungen, die die 350 Jahre der kapitalistischen Entwicklung begleitet haben. Damit dürfte sich das Ende dieses großen Spiels ankündigen – oder ist dennoch eine zweite Halbzeit zu erwarten?
Die folgende Grafik zeigt schematisch den Entwicklungsverlauf nach Robert Gordon:
In den ersten entwicklungsgeschichtlichen Phasen gab es über Jahrtausende so gut wie kein messbares Wachstum, erst mit Beginn der industriellen Revolution begann es zu steigen, und nahm dann immer schneller zu, bis zu einem Maximum, das Mitte bis Ende der 1970er Jahre begann einzubrechen.
Mit dem technischen Fortschritt und der zunehmenden Produktivität nimmt die (noch) nötige Arbeit immer weiter ab, bis sie (theoretisch) einen Nullpunkt erreicht hat:
Mit zunehmender Automation, also bei einem Automationsgrad von 100%, würde die nötige Maschinenarbeit theoretisch bis auf Null sinken, während die Produktivität bis gegen unendlich steigt:
Das würde bedeuten: superproduktive und -intelligente Maschinen und Roboter programmieren sich selbst und bauen sich selbst, und erledigen in sekundenschnelle unendliche Mengen von Produkten – das „Knappheitsproblem“ bei Keynes wäre offenbar gelöst. Übrig bliebe – rein rechnerisch – das Problem: wohin mit dem „ganzen Plunder“, also Versinken in völlig irrationalem „Überfluss“; außerdem das Energieproblem sowie ökologische Probleme, aber das sind an der Stelle rechnerische Gedankenexperimente.
Es würde aber sicher auch eine „Null-Grenzkosten-Ökonomie entstehen, wie 2014 bei Jeremy Rifkin diskutiert:
„Überfluss-Ökonomie
Wenn die Arbeits-Produktivität so weit steigt, dass ein reicher Warenkorb dank Automa-
tisierung mit wenig Aufwand an menschlicher Arbeitszeit hergestellt werden könnte,
träte das Knappheitsproblem in den Hintergrund.
Nach und nach würden sich in solchen Überfluss-Gesellschaften dann auch neue Fragen
der gesellschaftlichen Steuerung von Arbeitsteilung, Tausch und Verteilung stellen. (…) Die „Null-Grenzkosten-Ökonomie“ gilt erst, wenn auch die an-
deren Produktionsfaktoren nicht von Knappheit betroffen sind.“ (S. 32)
Mit steigender Produktivität und zunehmender Maschinenarbeit würde sich der Inhalt der Arbeit immer mehr auf „Kopfarbeit“, also Planung und Management konzentrieren:
Am konkreten Beispiel des Webens ist zu erkennen, wie der Einsatz der sich wandelnden Fertigungstechniken die nötige Arbeit immer weiter zum Schrumpfen bringt:
Die Autoren diskutieren auch verschiedene Szenarien des Auslaufens des Produktivitätswachstums, grundsätzlich scheint ein Ende aber ausgeschlossen.
Ausblick des Arbeitspapiers vom November 2017
Im „Ausblick“ auf die dargestellte Geschichte und Zukunft der Arbeit diskutieren die Autoren dann, was für den weiteren Verlauf des „Großen Spiel“ zu erwarten ist:
„Wird es eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Produktivität zu mehr materiellem
und Zeit-Wohlstand für Alle geben? Oder fällt der innovative Wettbewerb in einen destruktiven Konkurrenzkampf der nationalen Kapitale zurück (’America First’)?
Welches der drei großen Regulationsmodelle ist zukunftsfähig, welches sind die günstigs-
ten sozial-ökonomischen Rahmenbedingungen für eine Weiterentwicklung der Produkti-
vität der menschlichen Arbeit? Ist es der
- ’rugged-individualism’ der U.S.-amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschafts-
ordnung, - der besondere Chinesische Weg eines Hybrid-Systems aus Markt-Kapitalismus
und Staats-Sozialismus, - oder bietet eine Weiterentwicklung der europäischen ’sozialen Marktwirtschaft’,
einer Verbindung von kapitalistischer Produktionsweise, Sozialstaat und Demo-
kratie die besten Entwicklungschancen?“
Das erstgenannte Modell mit einem „destruktiven Konkurrenzkampf“ muss – eigentlich schon auf den ersten Blick, wie aus den Grafiken ersichtlich – ausscheiden, denn über kurz oder lang gäbe es gar keinen Gewinner mehr, in dem eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überhaupt noch existieren und funktionieren könnte.
Eine Weiterentwicklung der europäischen ’sozialen Marktwirtschaft’, als Verbindung von kapitalistischer Produktionsweise, Sozialstaat und Demokratie, die sie vorschlagen, wäre, wenn die oben genannten Faktoren konsequent zuende gedacht werden, nun nur möglich, wenn ein „destruktiver Konkurrenzkampf“ um die verbleibenden Arbeitsplätze und das übrigggebliebene konzentrierte Kapital irgendwie mit hohem politischen Steuerungsaufwand bewältigt wird. Das ist aber genau die zentrale Frage, ob und wie das möglich sein bzw. gemacht werden könnte. Aus genau dem Grund hat zum Beispiel der Ökonom Joseph Schumpeter den Übergang zu einem staatsdominierten, öffentlichen, sozialistischen Regulationsmodell vorgeschlagen.
Und eben das ist dann ja auch entstanden: in China entstand der besondere Chinesische Weg eines Hybrid-Systems aus Markt-Kapitalismus und Staats-Sozialismus, das hier als Regulationsmodell Nr. 2 vorgeschlagen wird. Die besonderen Anforderungen an ein Regulationsmodell, die in der Phase des dynamischen Produktivkapitalismus mit seinen schöpferischen „Schumpeterschen Unternehmern“ leicht zu lösen waren, stellen sich erst, wenn der Reichtum über die Volkswirtschaften hereingebrochen ist, und der Kampf um die Anteile an Gewinnen und verbleibender Arbeit paradoxerweise immer härter ausgefochten wird. Die USA verwandeln sich dann in Oligarchien, und zu befürchten ist wohl, dass der Westen diesem Verlauf folgen wird – das ist ja auch schon der Fall.
Matrix der Arbeit 2023 – und eine traurige Zukunft
Die umfangreichen sieben Bände mit den Forschungsergebnissen des IGZA wurden, nach ihrer Veröffentlichung beim Dietz-Verlag in Bonn, am 12. September 2023 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. In einer Powerpoint-Präsentation wurden die Folien präsentiert, mit im Vergleich zu den obigen Grafiken aus 2017 natürlich ähnlichen, aber viel detailreicheren Inhalten. Der „rote Faden“ ist in allen Darstellungen natürlich auch hier der Verlauf der Produktivitätsentwicklung. Die Entwicklung wird in vier Phasen zusammengefasst (1 Entstehung des Menschen; 2 Agrikulturgesllschaften; 3 Kapitalistische Marktwirtschaft; 4 Zukunft der Arbeit). Das „Ende der Knappheit“ taucht auf in der heutigen Gegenwart und wird dann immer breiter sichtbar im Verlauf der ferneren Zukunft, in der Darstellung bis 2300.
In Phase 4, als das Ende der Knappheit also schon erreicht ist, taucht die Frage nach den Entwicklungsalternativen in dieser Phase auf: ist es die solidarische und nachhaltige Marktwirtschaft, oder „Rugged Individualism“ – die beiden Alternative waren in dem oben genannten Arbeitspapier aus 2017 schon diskutiert worden. Da gab es als Alternative aber noch das chinesische Modell, den „Chinesische Weg eines Hybrid-Systems aus Markt-Kapitalismus und Staats-Sozialismus“. Dieses Modell ist aber nun, als es in der Phase 3 auf dem Weg war zum chinesischen Modell, plötzlich verschwunden. Es taucht in Phase 4 nicht mehr auf.
Im einleitenden Vortrag des IGZA-Gründers, Horst Neumann, wird kein Hehl daraus gemacht, dass dem Modell der solidarischen und nachhaltigen Marktwirtschaft der Vorzug gegeben wird. Das wird aber einfach deklariert: Alles, was – auch nach Marx, natürlich auch Schumpeter, natürlich auch Keynes – den Schluss nahegelegt hätte, das chinesische Regulationsmodell am Ende des „Großen Spiels“ des Kapitalismus für das aussichtsreichere zu halten – wegen der nun besseren Aussichten, den mit dem gewachsenen Reichtum höheren Regulationsbedarf auszuhalten – wird ausgeblendet. Ökonomen wie der amerikanische Ökonom Michael Hudson erklären, die besonderen Anforderungen an nachkapitalistische Ökonomien bestehen darin, dass sie stark genug sein müssen, die partikularen Macht- und Herrschaftsansprüche von Oligarchien im Interesse der Allgemeinheit im Zaum zu halten. Genau das schafft eben das chinesische Regulationsmodell, und in Grenzen auch das russische, aber das chinesische schafft es weit besser und erfolgreicher.
Das IGZA begeht im Grunde Verrat an seiner ganzen umfangreichen Forschungsarbeit, um ein Regulations- und Wirtschaftsmodell für das zukunftsfähigere erklären zu können – das aber seine Zukunft längst hinter sich hat. Dieses Modell kann nicht mehr wachsen – wachsen können dann nur noch die Renditeinteressen der Eigner hochkonzentrierter Vermögen, die auf ewig leistungsfreie Zinserträge einstreichen möchten. Darum steckt der Westen eben genau fest in diesem „Rugged Individualism“; darum kommen Zukunftsseher wie der argentinische Kettensägen-Fanatiker Javier Milei an die Oberfläche, oder der reichste Mann der Welt mit Namen Elon Musk, der Fan und erklärter Befürworter solcher Maßnahmen ist, und auch Kleinformat-Politiker wie der von seiner Zukunft zurückgetretene Finanzminister Christian Lindner lassen Gedankenspiele vernehmen, dass man es mit ein wenig mehr Milei und Musk doch ruhig einmal versuchen solle. Der derzeitige literaturwissenschaftlich geschulte Wirtschaftsminister Habek glänzt mit seinem vom Verdacht jeglichen ökonomischen Fachwissens völlig freien Vorschlag, doch nun „einfach mal“ in etwas zu investieren und nicht so risikoscheu zu sein, man werde schon sehen was dabei rauskommt. Ob er es mal mit einem Spielkasino versuchen will? Da kann man nachher auch immer sehen, ob was dabei rauskommt.
Das geplante Vergessen des (im Normalverlauf) geplanten Endes der Arbeit
Damit zurück zur Tech-Avantgarde, die „die Zukunft gestalten“ möchte – eben so, dass die lohnabhängige Industriearbeit nie aufhört. Die Autoren des IGZA haben sich aus der – wissenschaftlich geforderten – Analyse und Beschreibung dessen, was der Normalverlauf der kapitalistischen Entwicklung hätte sein müssen, quasi herausgemogelt. Sie haben ihren Anspruch an Wissenschaftlichkeit einfach aufgegeben, und sich dem allgegenwärtigen Betrug auf allen Ebenen (Covid!) angeschlossen.
Das hat ihnen als Mitarbeitern des Institut immerhin ermöglicht, vor all dem anderen Irrsinn die Augen zu verschließen, der aus der an sich möglichen fröhlichen Zukunft unserer Lebenswelt einen Alptraum macht: etwa mit dem Niedergang des Westens, wie Emmanuel Todd ihn beschreibt, und sein Versinken in einem Kult der Lüge und des Nihilismus, und mit dem Ausbruch des tödlichen Chaos im Nahen Osten seit dem Zusammenbruch Syriens, das Felix Feistel in seinem Artikel über den Strategiewechsel des Imperiums beschreibt.
Es sieht so aus, als habe „der Westen“ seine Zukunft nicht mehr in der eigenen Hand, und irgendwo wird sie so gemacht, dass der Westen niedergeht. Wer hat das alles in der Hand? Wer konnte nach dem Waffenstillstand mit der Hisbollah jetzt so plötzlich den Sturm auf Syrien einleiten? Die Rand Corporation, die dies und einen Strategiewechsel in Georgien schon seit Langem planen? Um Russland weiter in die Enge zu treiben? Wer hat das in den USA in der Hand – wenn es ganz offensichtlich nicht der debile abgewählte Noch-Präsident Joe Biden ist?
Columbia-Professor Jeffrey Sachs scheint „Erz-Zionisten“ in der US-Administration in Kooperation mit Benjamin Netanjahu für mancherlei Übel verantwortlich zu machen, wie alle Nahost-Kriege seit 2003, den Genozid in Gaza und auch schon den damaligen Fast-Kollaps Russlands unter Boris Jelzin, den Sachs aus eigener Erfahrung miterlebt hat. Könnten die Erz-Zionisten auch hinter diesem Strategiewechsel stecken, und damit hinter einem anderen, ebenfalls von langer Hand geplanten „Großen Spiel“: nämlich dem großen Spiel der Welt-Finanzelite, „die uns mittels Kriegen, Krisen und Regime-Changes auf die globale Machtergreifung vorbereitet“? Sind die „Erz-Zionisten“ mehr und Schlimmeres als nur eine Finanzelite?