Paul Mason im Reich der Asow-Untoten

Masons Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 22.5. ist eine Replik auf Habermas und dessen Debattenbeitrag zum Thema Ukraine-Krieg, womit der sich auf die Seite der Befürworter von Friedensverhandlungen stellt. Die Kritiker dieser Haltung spechen sich für eine Fortsetzung bzw. Intensivierung des militärischen Engagements aus. Die eine Seite sieht alle möglichen Diskussionen von Verhandlungslösungen also bestimmt durch das Faktum, dass Russland über Atomwaffen verfügt, während die andere Seite meint, diese Tatsache dürfe nicht so verstanden werden, dass man sich dem Willen der Atommacht Russland ohne Widerstand fügt.

In diesem Sinne schreibt Mason: „Jürgen Habermas stellt fest, dass die Existenz nuklearer Waffen und die damit verbundene Drohung gegenseitiger Vernichtung konventionell geführte Kriege unmöglich macht, dass es in diesem Szenario keinen Sieg mehr geben kann.“ Das kritisiert Mason: „Derselben Logik folgend, hätten wir den Widerstand gegen die moderne, global vernetzte Bourgeoisie — mit ihrer zunehmend militärisch aufgerüsteten Polizei und digitaler Überwachung — auch gar nicht erst aufnehmen können.“

Das ist allerdings kein sehr überzeugendes Argument: Widerstand gegen eine „vernetzte Bourgeoisie“, wie Mason sagt, mag ja ein ehrenvolles Ansinnen sein, aber dieser Bourgeoisie mangelt es weniger an Argumenten, als an Atomwaffen. Damit hat sich dieses Argument eigentlich erledigt. Es folgen aber mindestens weitere 5000 Worte, in denen Mason mit keinem Satz oder Wort über dieses Faktum hinaus kommt, dass in diesem Ukraine-Krieg die eine Seite gegen eine Atommacht kämpft. Die Ukraine hat viel, sehr viel Geld zur Verfügung, das Geld ihrer Freunde und Unterstützer, und es scheint in unendlichen Strömen aus sie herabzuregnen, nur – sie hat eben keine Atomwaffen.

Mason bemüht sich dann, alles aufzubieten, was ihm an Argumenten zur Verfügung steht. Emotionale Entrüstung sei angebracht, meint er, aber es muss natürlich auch militärisch konkret werden : „Emotionale Entrüstung über die Invasion kann nicht genug sein.“ Und Habermas liege eben „falsch, wenn er daraus folgert, dass konventionelle Kriege gegen eine Atommacht nicht gewonnen werden können.“ Mason glaubt also, konventionelle Kriege gegen eine Atommacht könnten doch gewonnen werden.

Und so fährt er unverdrossen fort, in allerlei Variationen für das „Gewinnen“ zu argumentieren.

Konventionelle Kriege trotzdem gewinnen

Worum geht es, in Masons Sicht:

„Denn dies ist nicht einfach irgendein Widerstand eines Landes gegen die Aggression eines anderen, dies ist nicht einfach ein Krieg, bei dem es um das ethnische und nationale Überleben der Ukrainer gegen einen vom Faschismus inspirierten russischen Ethno-Nationalismus geht. Es ist ein systemischer Konflikt.“

Aha, ein systemischer Konflikt. In so einem systemischen Konflikt kann eine Atommacht wohl einfach nicht anders, als ihre Atomwaffen zu strecken – glaubt Mason. Das Argument würde damit immer noch nicht besser. Aber wichtiger ist Folgendes: Mason mißversteht das Argument des systemischen Konflikts. Tatsächlich geht es eben um eine ganz andere Art von systemischem Konflikt, und die Frage des militärischen Übergewichts der Atommacht Russland ist letztlich gar nicht der springende Punkt.

Mason behauptet, Xi Jinping und Wladimir Putin hätten „selbst angekündigt“, es solle „keine universellen Werte mehr geben. Was sie im Visier haben, ist eine totalitäre Welt unter russisch-chinesischer Vorherrschaft, in der alle Revolten im Keim aus ihrer Sicht legitim erstickt werden, mit der einfachen Begründung, sie seien aus dem Ausland heraus angestiftet und provoziert worden.“

Dazu ist Folgendes zu sagen:

Ad 1: China ist sicherlich keine parlamentarische Demokratie, wie sie alle gerne hätten, aber China hat in den knapp 4000 Jahren seiner Geschichte noch nie seine Nachbarn überfallen (darum haben die eine Mauer gebaut, zur Verteidigung), und darum muss niemand die Entstehung einer „totalitären Welt“ außerhalb der Grenzen Chinas fürchten.

Ad 2: Russland hat sich nach dem Ende der Sowjet-Union redlich um die Entwicklung einer parlamentarischen Demokratie bemüht, wäre nach zwei Jelzin-Regierungen fast kollabiert, musste sich gegen eine wilde Meute von Plünderern seiner Ressourcen wehren, und wäre im Übrigen ganz gerne eine Demokratie geworden bzw. geblieben, soweit das unter den gegebenen Bedingungen noch möglich war. Dabei muss man mitbedenken, dass Russland in den 1990er Jahren und danach nicht einfach die kapitalistische Entwicklung nachholen konnte, die in der übrigen Welt schon lange am Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten angekommen war.

Systemischer Konflikt: Mason kennt ihn

Gerade Paul Mason sollte verstanden haben, was „systemischer Konflikt“ bedeutet, was seine Ursachen sind, und was die Welt von einem echten systemischen Konflikt zu erwarten hat. Das System, das die Welt tatsächlich beherrscht – und das intensiver und totalitärer als je zuvor -. ist der Alte Bekannte Kapitalismus, und der gerät in seinen letzten Tagen nun vollkommen außer Rand und Band, alle Indikatoren senden Warnsignale, und er könnte der Welt und ihrem Überleben in der Tat sehr gefährlich werden – so gefährlich, dass eben nicht mehr nur ihr systemisches Überleben bedroht ist.

Russland und China sind die beiden Großmächte, in denen eben nicht die systemischen Kräfte „Kapital“ und seine Helfer das Sagen haben, sondern diese beiden, die eigentlich nur durch einige Zufälle (oder auch geschichtliche Unfälle) zu dem geworden sind, was sie nun sind. Russland hat sich nach der Oktoberrevolution in das später gescheiterte Experiment Sowjet-Union begeben, und China nach Entstehung der Volksrepublik in das phasenweise völlig chaotisch verlaufene Experiment Kommunismus, das aber nun einen sehr erfolgreichen Aufstieg geschafft hat. Beiden ist gemeinsam, dass sie eben nicht zu  Diktaturen des Kapitals geworden sind,  während die westlichen Demokratien es tatsächlich nur dem Schein nach noch sind, und sich längst in die „Oligarchien“ verwandelt haben, die der Legende nach nur in Russland existieren.

Die Haltung aller Radikalen: Alles oder Nichts

Mason behauptet, Habermas übermittle die folgende Botschaft

Seine Botschaft, nicht nur an die Ukraine, sondern an alle demokratischen Länder des Westens, ist: Wer überleben will, muss die Existenz des neuen totalitären ethno-nationalistischen Staats in Russland akzeptieren. Inklusive der Zerstörung jedes regelbasierten internationalen Rechts und der Aufgabe jeder „Responsibility to Protect“, ein Prinzip, auf dem Habermas selbst während des Kosovo-Kriegs noch bestand.

Wenn es tatsächlich so wäre, dass es um das Schaffen „eines neuen totalitären ethno-nationalistischen Staats in Russland“ geht, dann ginge es zuerst um Frage, ob dieser  „totalitäre ethno-nationalistische Staat“ sich der Übermacht beugt. Er könnte sagen: in dem Fall gibt der Klügere nach, und sichert immerhin seine Existenz. Ferner ginge es um die Frage, ob auch die übrige Welt sich der schieren Übermacht der Atomwaffen beugt. Wenn nicht, dann bliebe diese (letzte) zu lösende Frage übrig, wie ein möglicher Konflikt zwischen Atommächten zu lösen bzw. zu  entscheiden ist. Wie dann – mit Atomwaffen?

Mason spricht über die Zerstörung des „regelbasierten internationalen Rechts“. Die Frage, ob es einen Unterschied macht, ob es um „regelbasiertes“ Recht geht oder internationales Völkerrecht, ist – fast – nur noch ein Nebenaspekt; tatächlich ist das sogenannte „regelbasierte“ Recht eine Verwässerung, eine Abweichung vom Völkerrecht, das längst nun zum Recht der zahlungskräftigen Mehrheit geworden ist.

Was aber viel wichtiger ist: was Mason behauptet, ist eine Fiktion, denn niemand plant einen „totalitären ethno-nationalistischen Staats in Russland“; das hat die Geschichte der Entwicklung der Ukraine nach dem Maidan-Putsch hinreichend belegt. Noch in 2019 etwa hat das ukrainische Parlament ein „Gesetz zur Stärkung der ukrainischen Sprache“ verabschiedet. Es bedeutet: „Beamte auf allen Ebenen sowie Lehrer, Ärzte und Anwälte müssen in Zukunft Ukrainisch sprechen und werden andernfalls mit Geldstrafen belegt. Zudem wird die Quote für ukrainischsprachige Fernseh- und Radioprogramme erhöht.“

Die FAZ schreibt dazu: „In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen.“

Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, wie dieses Gesetz im Lebensalltag der Menschen wirkt: „Ab sofort sind zudem sämtliche Staatsangestellten, Verkehrspolizisten, Ge­richtsdiener, Klinikärzte verpflichtet, die Bürger, sofern diese nicht um eine andere Sprache bitten, auf Ukrainisch anzureden.“

Was ist also mit Masons totalitärem ethno-nationalistischen Staat – offenbar ist das genaue Gegenteil der Fall. Die Ukraine ist der totalitäre ethno-nationalistische Staat.

Die in dem traditionell vielsprachigen Völkergemisch der Ukraine geübte Toleranz gegenüber den einzelnen Volksgruppen sollte plötzlich zugunsten der Ukraine aufgegeben werden, was eben einer der Gründe – neben der gewährten Teilautonomie für die Regionen der Süd- und Ostukraine – für den ab 2014 in einen offenen Bürgerkrieg einmündenden blutigen Konflikt war.  Aber Mason hat das nicht verstanden.

Fragen aus dem Reich der Asow-Untoten

Mason breitet nun immer neue Varianten dieses einen Argumentes aus: sind wir bereit, einen Atomkrieg zu riskieren, in Kauf zu nehmen, vielleicht (als Nato-Land) sogar anzufangen?

Und weiter geht es:

Sind wir bereit, die bestehende Sicherheitsordnung der EU aufzugeben?

Sind wir bereit, Widerstand zu leisten?

Sind wir bereit, Widerstand gegenüber Putin zu leisten; der Ukraine Waffen und Munition zu liefern, Geld und Geheimdienstinformationen zu liefern…

Der nukleare Krieg ist nicht das einzige existentielle Risiko, dem wir gegenüberstehen…

Dann kommt er endlich zur Quintessenz:

„Wer aber Freiheit für selbstverständlich hält, wird früher oder später erkennen, wie schnell sie bedroht werden kann und sich entscheiden müssen, auf welcher Seite er oder sie stehen will. Wer Freiheit will, muss auch das existentielle Risiko wagen wollen, sie zu verteidigen.“

Also: es geht ums Ganze. es geht um das existenzielle Risiko, es geht um Alles oder Nichts.

Ginge es tatsächlich um Alles oder Nichts in dieser finalen Situation, dann ginge es darum, wer derjenige ist, der es wagt, den Knopf zu drücken. Wer darauf setzt, dass es dann Variationen von kleinen Halb- der Fast-Atomkriegen gibt, setzt dann (hoffentlich) auf das falsche Pferd. Eine Welt mit einigen ganz oder nur halb atomar verwüsteten Regionen oder Ländern zu  hinterlassen ist womöglich noch entsetzlicher als die Vorstellung eines kompletten unwiderbringlichen Endes.

Was also tun, wenn dieses existentielle Risiko auf die Welt zukommt? Gibt es dann den Moment, in dem die Welt sagt: der Klügere gibt nach?

Angenommen diese Situation ist da. Im Laufe des Januar 2022 hat sich Russland bemüht, die Situation zu entschärfen und Wege zu einer Einigung zu finden. Es hat sehr viele Vorschläge vorgelegt, die von den USA alle abgelehnt worden sind. Wenn also einer von beiden die Hand zur Versöhnung austreckt, und er andere schlägt sie aus: wer ist derjenige von beiden, der den Frieden sucht, und wer sucht den Krieg? In der damals bestehenden Situation hätte es absolut nichts gekostet, die vorgeschlagenen Bedingungen zu akzeptieren. Von Russland für die Ukraine (NUR für die Ukraine!) einen neutralen Status zu verlangen, in Anbetracht des ja vorher noch bestehenden Minsker Abkommens, hätte tatsächlich nichts gekostet. Aber man hat es abgelehnt.

Es sieht so aus, als lege es die (westliche) Welt darauf an, dass die Dinge sich auf diesen finalen Show-Down zubewegen. Wer Freiheit will, sagt Mason, muss auch das existentielle Risiko wagen wollen, sie zu verteidigen. Jeder vernünftige Mensch würde sagen: wer tatsächlich nicht nur die Freiheit will, sondern auch das Überleben der Menschheit, würde in dieser Situation alles tun, um die Waffen zum Schweigen zu bringen. Und die ganze (westliche) Welt hätte alle Möglichkeiten, die – angeblich totalitäre, gewalttätige – östliche Welt mit ihrer riesigen Übermacht von 30 Natostaaten vom Frieden zu überzeugen. Wenn das Überleben tatsächlich auf dem Spiel steht – eben auch angesichts der dramatischen ökologischen Krisensituation – sollte nichts wichtiger sein als die Waffen zum Schweigen zu bringen.

Wer dieses existentielle Risiko wagen will, lieber Paul Mason, der sollte auch das Risiko eingehen, zum Untoten zu werden. Bitte recht bald.

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