Ich lese gerade zwei wichtige Bücher, das neue Buch von Fabian Scheidler über das kommende Zeitalter der Revolutionen, und das Buch der Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn „Wir sind der Staat„. Ich finde Dahns Buch wichtig, weil sie plausibel macht, dass wir in einer – hoffentlich – besseren Zukunft und Welt, auf die wir uns ja schließlich hinbewegen wollen (und müssen, weil wir es zumindest unseren Kindern schuldig sind), nicht ohne einen modernen aufgeklärten Staat auskommen werden.
Scheidler beschreibt in klaren Worten das Chaos, in dem wir uns schon befinden, und das sich womöglich noch intensivieren wird, bevor das beginnende Gramscische „Interregnum“ dann eines fernen Tages überwunden sein wird. Er beschreibt das „Chaos in den Köpfen“, das zu einem nicht geringen Teil wohl ein planvoll angerichtetes „Chaos“ ist, im Sinne der auf Zbigniew Brzinski zurückgehenden Strategie des „Tittietainment“: die Menschen mit Brot und Spielen, mit Krimis und Quiz-Shows und versexten Nachrichtenformaten planvoll zu sedieren und zu verblöden, auf dass sie die ihnen zugedachten Gemeinheiten des „neoliberalen Roll-Back“ widerstandslos über sich ergehen lassen. Jedenfalls kann es ja wohl kein Zufall sein, dass inhaltsvolle Sendungen zu aktuellen brisanten Themen mit schöner Regelmäßigkeit in den tiefsten Nachtstunden landen, wenn sie denn überhaupt gesendet werden. Scheidler nennt das (und anderes) „kollektive Realitätsverweigerung“: „… selbst die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, die ja eigentlich einen Bildungsauftrag haben, beteiligen sich an diesem »Brot-und-Spiele«-Programm, indem sie ihre besten Sendezeiten mit endlosen Sportevents, Unterhaltungsshows und Krimis füllen. Fragen, die unsere Zukunft und das Überleben der Menschheit betreffen, gibt es dagegen bestenfalls nach Mitternacht, wenn die arbeitende Bevölkerung längst im Bett liegt, oder auf Nischensendern wie Arte.“
Dann gibt es die „Bunkermentalität“ der herrschenden und von diesem Zustand profitierenden Schichten: „Die Möglichkeit, dass mit unseren ökonomischen, politischen und medialen Systemen etwas grundlegend nicht in Ordnung sein könnte, wird militant geleugnet. Vertreter der selbsternannten »Leitmedien« rücken enger zusammen, um sich gegenseitig zu versichern, dass sie die Guten sind und immer alles richtig gemacht haben; Politiker einer ebenfalls selbsternannten Mitte hämmern sich selbst und uns ein, dass ihre Politik alternativlos sei; und Ökonomen, die noch nie etwas richtig vorausgesagt haben, geistern als unsterbliche »Experten« auf allen Kanälen umher. Diese Form postfaktischer Selbstgerechtigkeit nimmt inzwischen gespenstische Züge an.“ Schliesslich noch einige bemerkenswerte Sätze zu den viel zitierten „Verschwörungstheorien“, in denen Scheidler die wichtige Unterscheidung macht zwischen (meistens) kriminalistischen Hypothesen als Täter-oder Tathergangstheorie zu einem aufzuklärenden Verbrechen, die ja notwendigerweise aufgestellt werden müssen (und sich dann entweder verifizieren oder falsifizieren lassen, in einem ordentlichen Verfahren der Beweiswürdigung), und sog. Verschwörungsideologien, die eine rationale Beweisaufnahme und -führung gar nicht wollen. Auf der Grundlage einer solchen Unterscheidung kann man dann auch Sprachregelungen einordnen, die das Bemühen um rationale Tataufklärung als „Verschwörungstheorie“ zu etikettieren suchen – offenbar gerade um sachgerechte Tataufklärung zu verhindern.
Das aber eher nur ebenbei, obwohl Scheidlers Hinweis auf die offensichtliche Ablenkungsfunktion des Terrors („Terror: die grosse Ablenkung“) ja einen sehr wichtigen Aspekt einer zeitkritischen Analyse der Gegenwart darstellt. In den USA sterben durch Schusswaffengebrauch Jahr für Jahr 33.000 Menschen, und man nimmt das mit einem Achselzucken hin, wohingegen wegen der angeblichen Terrorgefahr nach dem 11. September der ganze Nahe Osten verwüstet werden musste, und Billionen von Dollar in Aufrüstungs- und Überwachungsprogramme gewandert sind.
Aber wo ist der Zusammenhang nun zur Staatstheorie Daniela Dahns?
Man muss sich ja fragen, wie die Welt in dieses entsetzliche Chaos hineingeraten ist, und wie sie da wieder herauskommt. Wie viele andere auch, die sich diese Gedanken machen und die Sorge um den zu beobachtenden Kulturverfall antreibt, sieht Scheidler als letzte Verursachung einen irgendwie wohl doch vermeidbaren Fehler (stark vereinfachend zusammengefasst, ohne ihm zu nahe treten zu wollen); der 500-jährige Kapitalismus und gar schon das römische Recht mit seinem Eigentumsbegriff scheinen ihm irgendwie im Zentrum der Frage zu stehen, wo denn vielleicht etwas schief gelaufen ist in der Geschichte (vornehmlich der westlichen Welt). Er verweist etwa auf die Degeneration unserer Ökonomie zur Chrematistik – vollkommen richtig, schon Aristoteles unterschied die produktive Oikonomia (als Hauswirtschaft) von der unproduktiven und unsittlichen Chrematistik, die dem Ziel der endlosen Geldvermehrung folgte; so ist es heute die „finanzialisierte“ Weltwirtschaft, die keine realwirtschaftlichen Wohlstandszuwächse mehr hervorbringen kann, sondern nur noch die Taschen der Reichen füllt, auf Kosten der Armen. So ist es leider. Aber gibt es da einen Konstruktionsfehler im Kapitalismus, dem dies zu schulden ist und den man hätte vermeiden können, oder liegt der schon im römischen Recht mit seinem Eigentumsbegriff? Und was wäre dann die Lösung?
Und nun wird die Sache unübersichtlich. Scheidler plädiert für eine „Gemeinwohlökonomie“, und in der soll der Staat offenbar nicht so sehr eine Rolle spielen, oder eher gar keine. Aber liegt denn da, beim Staat, das Problem? Oder beim Kapitalismus, an sich?
Der Kapitalismus
Der Blick auf das uns umgebende Chaos (sicherlich verstärkt und intensiviert durch den neoliberalen Roll-Back) versperrt den Blick dafür, dass der Kapitalismus gute Zeiten hervorgebracht hat (Hobsbawms „Goldenes Zeitalter“, etwa 1950 – 1970), und insgesamt erreicht hat, dass die „ungeheure Warensammlung“ sehr groß geworden ist. Und zwar so groß, dass – wenn auch aufgrund der schlechten Verteilung nur in den oberen Einkommensschichten – Sättigung eingetreten ist. Dies dürfte einer der wichtigsten Faktoren gewesen sein, die ab Ende der 1970er Jahre das harmonische Gefüge zwischen Produktnachfrage und beschäftigungssichernder industrieller Produktionsweise in dieser Zeit zerstört haben. Der Einbruch der Massenmärkte aufgrund von Sättigung und der dadurch notwendig werdende Abbau von Beschäftigung haben als wesentliche Faktoren zum Bruch der sozialliberalen „Zähmung“ des Kapitalismus in dieser Zeit geführt. Eine ähnliche Entwicklung gab es in den USA.
Was passiert dann? Die privatwirtschaftlich und wettbewerbsmäßig organisierte Ökonomie bzw. die unter diesem Regelsystem agierenden Akteure – die Unternehmen – versuchen sich und ihre Gewinne zu retten, und in in diesem Sinne schlechten Zeiten werden dann die Methoden immer ruppiger und rücksichtsloser. Stark verkürzend kann man sagen: es lief alles hinaus auf den dann ab den 1980er Jahren eingeläuteten und mit Zusammenbruch der Sowjetunion hemmungslos umgesetzten neoliberalen Rollback. Und das bedeutet eben all das: Finanzialisierung, Überschuldung privat und öffentlich, Stagnation, Null-Zinsen, Beschäftigungsabbau, Blasenbildung und Crashs, Prekarisierung, und den Aufbau der dies alles affirmierenden Öffentlichkeitsarbeit. Lauter Maßnahmen zum Gewinnen von Zeit („Die gekaufte Zeit“) bis zum Zusammenbruch: dazu gehört offenbar auch das heftige Streben nach Osten, einerseits um unerschlossene Märkte zu eröffnen, andererseits Zugriff auf Ressourcen zu schaffen, und drittens, ganz nebenbei, noch einen Bremser bei der geplanten Errichtung einer unipolaren Weltordnung loszuwerden (wo dann das globale Finanzkapital vollends ungebremst schalten und walten könnte wie es ihm gefällt).
Aber insgesamt hat der Kapitalismus hervorgebracht, was er hervorbringen konnte: Immensen Reichtum, als Warenansammlung. Wir hat er das geschafft? Wie etwa bei Max Weber beschrieben hat: durch Disziplinierung, von Menschen („Taylorismus“) und Maschinen, wobei die Maschinen nicht diszipliniert werden müssen, sondern nur hervorgebracht (erfunden, ingenieurmäßig entwickelt) und eingesetzt.
Wenn dieser Reichtum nun geschaffen ist, was passiert? einerseits, wie zu beobachten: neoliberaler Rollback, also: statt realem Wachstum (was aufgrund aggregierter Nachfrageschwäche nicht mehr möglich ist) Zuwachs von Ungleichheit und Reichtumskonzentration, der seinerseits weitere Konzentration und Ungleichheit hervorbringt. Andererseits: die Maschinerie, die den realen Reichtum ja mit geschaffen hat, verändert sich. Es entsteht die digitale Maschinerie, hochproduktiv und hochflexibel.
Nach dem Kapitalismus – öffentliches Kapital
Nun soll das Kapital, also die Maschinerie zur Produktion des Reichtums, irgendwie aus der privaten Verfügung heraus. Wie soll das gelingen, und wo soll es hin? Die gemachten Erfahrungen mit dem „Realsozialismus“ sind noch zu lebendig, als das jemand Verstaatlichung von Unternehmen fordern und für machbar halten würde. Warum hat der Realsozialismus nicht zum erhofften Erfolg geführt? Es ist unmöglich, das hier in wenigen Sätzen zu sagen, aber eine möglich Zusammenfassung würde vielleicht folgendermaßen lauten: man hat im Sozialismus versucht, Waren (auf Märkten gegen Geld zu tauschende Produkte) von Staatsunternehmen produzieren zu lassen. Denen wurden Pläne vorgegeben, es wurden Produkte entwickelt, deren Produktion wurde geplant, und die Menschen sollten diese Produkte dann zu geplanten Preisen kaufen. Aber das funktioniert nicht. Denn: Die Menschen wissen erst dann was sie wollen, wenn sie es sehen (so hat es Steve Jobs einmal gesagt). Dann schauen sie auf den Preis, und kaufen es – vielleicht. Marktwirtschaft ist – fast unvermeidlich – eine Überschussproduktion auf Gut Glück, auch wenn noch so sehr versucht wird die Risken einer Markteinführung von Produkten zu minimieren. Aber aus diesem Konglomerat aus Überschussproduktion, Wettbewerb, unternehmerischem Risiko und Wagemut und Arbeitseinsatz von Menschen und Maschinen entsteht der Reichtum des Kapitalismus, und – die Brutalität des Kapitalismus.
Wie kommt man da hinaus? Witzigerweise bringt der Kapitalismus nun in dieser Endphase genau die Mittel hervor, die es möglich machen, da herauszukommen. Der Kapitalismus bringt eine neue Produktionsweise hervor, nämlich die sogenannte digitale Fabrikation, oder das „Digital Manifacturing„. Der wesentliche Unterschied ist folgender: in der herkömmlichen industriellen Fabrikation wird ein Produkt entwickelt, seine Markteinführung geplant, seine Produktion mit den Produktionsanlagen geplant, eine Produktlaufzeit wird geplant, die Umsätze, der Produktpreis und die Kosten und Gewinne werden geplant, und dann startet die Produktion, und die Märkte und die Konsumenten zeigen, ob der Plan aufgeht. In der digitalen Fabrikation aber läuft es anders: da wird nur das Produkt geplant, und nur als digitaler Datensatz, den man aber schon sehen kann. Dieses Produkt als Datensatz wird nun dem Kunden (per Internet) angeboten. Und erst wenn eine Kunde es kauft, wird es produziert. Produziert wird es auf einer Produktionsanlage, die eben nicht für ganz bestimmte Produkte konzipiert ist, sondern für beliebige – sonst wäre ein solcher Ablauf nicht möglich. Das heisst: Während es unter den herkömmlichen technischen Bedingungen unmöglich war, die Produktion einer ganzen Volkswirtschaft zu planen, ist es unter diesen technischem Bedingungen vergleichsweise ein Kinderspiel; man muss nur eher grob die Kapazitäten planen, und etwa den Rohstoff- und Energiebedarf.
Die Produktionsanlage selber arbeitet also hochautomatisiert, und wegen des hohen und hochflexiblen Automationsgrades ist sie sehr faktorunspezifisch. Sie kann beliebige Dinge herstellen. Das ist das Wesen der digitalen Fabrikation.
Aber erst wenn diese technische Möglichkeit gegeben ist, kann die Produktion bzw. die Produktionsanlagen, die „Grosse Maschinerie“, öffentlich werden. Vorher ist der Staat oder jede öffentliche Institution überfordert. Wenn dieses Stadium der technischen Entwicklung erreicht ist, ist eine digitale Fabrik auf die gleiche Weise zu führen und zu managen wie etwa eine Kraftwerk zur Stromerzeugung, oder die Verkehrsbetriebe der Kommunen, für den öffentlichen Nahverkehr. Eine digitale Fabrik produziert ein homogenes Gut, das erst durch den einzelnen Kunden, der ein Produkt auswählt und in die Produktion gibt, zu einem individuellen Gut wird.
Sollen diese Universalfabriken nun dem Staat gehören? sollen sie überhaupt jemandem gehören? Ich glaube: 1. sie können nicht niemandem gehören (wie soll das gehen? eine Investition von, sagen wir 25 Millionen, gehört niemandem?), und 2. ob sie dem Staat, den Ländern oder den Kommunen gehören, ist letztens eine Frage von Sacherwägungen, aber sonst bedeutungslos. Wichtig ist: solche Fabriken sind (fast) nicht mehr wertschöpfend, und ein privater Besitzer würde sie verwenden zur Erzeugung einer leistungslosen Monopolrendite (weshalb die Privaten so scharf waren auf die öffentlichen Betriebe, sei es zur Energieerzeugung oder zur Wasserversorgung, auf die Autobahnen, oder jetzt sogar auf Bildungseinrichtungen). Deshalb MÜSSEN sie öffentlich sein. Der Staat aber, und da hat Daniela Dahm vollkommen recht, sind WIR. Es liegt in der Verantwortung der Bürger, ihren Staat zu dem zu machen, was er sein kann, und was er sein soll. Und es wird auf die Dauer nur Insitutionen auf dem Integrationsniveau von Staaten möglich sein, der geballten und konzentrierten Macht des globalen Kapitals die Macht des Volkswillens, des Souveräns, das Notwendige entgegenzusetzen. Nur der Staat kann für Recht und Gerechtigkeit sorgen, und legitime und universale Menscheninteressen zur Geltung bringen und durchsetzen.
Beschrieben habe ich dies alles hier: