Der letzte große deutschsprachige Philosoph mit weltweiter Reputation, Jürgen Habermas, sieht in seinem großen Alterswerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ die Welt durch die in ihm beschriebene Entwicklungsgeschichte des Denkens hindurch auf dem Wege zu vernünftiger Freiheit. Weil philosophische Beschreibungen immer auch normative Beschreibungen der Geschichte und ihres Zieles sind, also solche, die – im Gegensatz zur bloßen Erbsenzählerei des jeweils historisch Vorfindbaren, des Kontingenten, bloß Faktischen – Aussagen darüber zu machen beanspruchen, wohin die Entwicklungsgeschichte des Denkens die Menschen und ihre Lebenswelt führen soll, sagt Habermas damit, dass die Geschichte vernünftigerweise zu vernünftiger Freiheit führen soll. Diese Beschreibung enthält somit auch einen Gestaltungsauftrag an die – vernunftbegabte – Menschheit.
Aber was bedeutet das? Am 27. Mai lief im ZDF ein Film mit dem Titel „Sparen ade – Wer zahlt den Preis für den Niedrigzins?“. Wie der Titel sagt, ging es in diesem Film um die – tatsächlich ja nicht nur in Europa – historisch niedrigen Zinsen: „Deutsche Sparer haben ein Problem: Die Zinsen in Europa sind so niedrig wie niemals zuvor.“ Dass die Sparer gerne mit höheren Zinsen für ihren Sparfleiß belohnt werden würden, ist leicht zu belegen und zu dokumentieren, indem man etwa den Ärger enttäuschter Sparer über von der Bank gekündigte Sparverträge im Interview sichtbar macht. Nur: warum sind die Zinsen denn in Europa so niedrig? Steckt da etwa die Politik der EZB dahinter, die doch einfach nur den Leitzins erhöhen müsste? Die ZDF-„Dokumentation“ legt diese schlichte Erklärung tatsächlich nahe. Ziel der Niedrigzinspolitik der EZB sei es gewesen, Investitionen und Konsum mittels des durch niedrige Zinsen billig gemachten Geldes zu stimulieren; weil aber die Menschen trotzdem nicht konsumieren, und die Unternehmen trotzdem nicht investieren, sei die Politik der EZB „gescheitert“. Ja aber – warum konsumieren die Menschen denn nicht? Da raunt die ZDF-Dokumentation: „Geld ausgeben passt offenbar nicht zu unserer Kultur“.
Ach! Ja das ist eine famose Erklärung, die die Tugend der schwäbischen Hausfrau zu etwas Irrationalem stempelt; wer Geld nicht ausgibt, obwohl es billig ist, ist wohl irgendwie kulturell gehemmt. Als „einziger Ausweg“, meint man, bleibe da dann nur der Staat, der dann eben solange Geld ausgeben muss, bis die Zinsen wieder steigen. Der Staat soll investieren in digitale Infrastruktur, Autobahnen und Bildung, damit spätere Generationen einmal „besser dastehen“ als wir heute, wie der befragte ökonomische Experte M. Fratzscher in die Kamera sagen darf. Ob die späteren Generationen dann wohl nicht mehr durch Kultur und höhere Bildung beim Geld ausgeben behindert sind?
An der Stelle der Argumentation möchte man gerne den Philosophen Habermas dazu befragen, für wie vernünftig solche Überlegungen zu halten sind. Die Menschen sollen sich nicht durch falsche Kultur daran hindern lassen, ihr Geld auszugeben? Und der Staat soll investieren, damit die Zinsen wieder steigen? Verwirklicht sich vernünftige Freiheit durch vernunftloses Geld ausgeben der einen, damit die anderen – die Sparer und Geldanleger – anständige Zinsen einstreichen können?
Vernünftige Freiheit ist zu verstehen als die Beschreibung eines Zustandes der Welt, an dessen Herstellung alle Menschen ein Interesse haben können, und auch haben sollten; es geht also um die Verwirklichung eines Universalinteresses der Menschheit, nicht eines Partikularinteresses, und ist damit universal legitimiert. Es ist auch nicht regional oder historisch kontingent und eingegrenzt, sondern überzeitlich gültig. Friedrich Schiller hätte dies ein universalgeschichtliches Interesse genannt, ein universal gültiges Interesse an der geschichtlichen Heraufkunft eines Zustandes der Welt, den man nicht anders denken kann als „utopisch“, auf ein ideales Ziel ausgerichtet, auf etwas Großes und Erhabenes, auf etwas, das aus dieser einzigen uns zugänglichen und uns anvertrauten Welt werden kann, und eben auch werden soll.
Nach Habermas ist dies eben: vernünftige Freiheit. Gehören dazu aber auch in Ewigkeit stabile, möglichst hohe Zinserträge? Zu derart profanen Fragen hält der Philosoph Habermas sich vornehm und weise zurück; das Eindringen in die unwägbaren Tiefen des Ökonomischen und des Technischen ist seine Sache nicht. Ein anderer Philosoph, der so unvorsichtig war, sich in diese Untiefen zu begeben, ist damit schwer gescheitert, wie man weiß, und wie Habermas in seiner Geschichte der Philosophie umfassend erläutert. Das war der Herr Karl Marx.
Der Telos der Geschichte fallender Zinssätze
Marx hatte die Geschichte der Philosophie, des Denkens über die Welt und des Gestaltens der Welt ja in anderen Begriffen beschrieben; das beständige Fallen der Zinssätze kam darin aber durchaus auch vor. Genau dies lässt sich nun offenbar gut empirisch bestätigen: Der britische Journalist Paul Mason berichtete im Mai über eine aufwändige Studie der Bank of England, die zu dem Schluss kommt, dass die Renditen für Staatsschulden – eine Größe, die für die möglichen Zinsgewinne des Privatsektors eine untere Grenze darstellt – seit rund 700 Jahren, also seit dem Beginn des Bank- und Kreditwesens in Oberitalien im 14. Jahrhundert im geglätteten Verlauf beständig fallen, und dass zu erwarten ist, dass sie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts dauerhaft deutlich negativ sein werden.
In der von Mason zitierten Studie wird der Verlauf der Zinsentwicklung beginnend mit dem Jahr 1317 bis zum Jahr 2018 in einer Grafik (S. 14) dargestellt, und Mason fasst die Aussage dieser Grafik folgendermaßen zusammen: „Diese Grafik zeigt, dass die florentinischen Banker, die das moderne Finanzwesen erfunden haben, zweistellige Renditen für ihre Kredite erzielten. Shakespeares Shylock hätte, wenn er existiert hätte, ungefähr 8 Prozent bekommen; als Lenin gegen die parasitären „Coupon Clippers“ von Surrey schimpfte, erreichten sie real rund 4 Prozent. Für die heutigen Sparer geht die Zahl gegen Null.“ Wie Mason dazu richtig bemerkt, sind die von den Medicis im mittelalterlichen Florenz berechneten Zinssätze nicht mit denen der heutigen Banken vergleichbar, da Zinsen im entwickelten Kapitalismus eine ganz andere Funktion und Bedeutung bekommen haben als sie im Feudalismus hatten. Zwar mussten Aristokratie und Klerus gelegentlich für besondere Investitionen Kredite aufnehmen, aber die gewöhnlichen Erträge aus ihren Vermögen – meistens eben Landbesitz – wurden in Naturalien „bezahlt“; sie stammten aus Pflichtabgaben und -leistungen der Bauern in Form von Scheffel Weizen, Hühnern, unbezahlter Arbeit oder Militärdienst. Im Kapitalismus aber ist das Geschäft von Geldverleih, Investitionen, Wachstum und Kapitalerträgen essentiell geworden, ja wahrhaftig zum innersten Lebenselixier – siehe oben.
Darum hat diese große Trendrechnung eine spektakuläre Bedeutung, einmal als empirische Basis zur Erklärung von Stagnationstendenzen, die ja spätestens seit der letzten großen Finanzkrise immer wieder diagnostiziert worden sind, und auch wegen der Brisanz aus ihr herzuleitender Prognosen: denn was wird aus dem Kapitalismus, wenn die Zinsen nicht nur nicht mehr steigen, sondern auch nicht aufhören zu fallen, bis deutlich in den negativen Bereich? Und nun wiederum zur Frage: warum fallen die Zinsen denn ständig? Und das schon seit 700 Jahren? Gehört das Geldausgeben tatsächlich schon seit 700 Jahren irgendwie nicht zu „unserer Kultur“? Marx hatte dafür eine andere Erklärung, und die unterscheidet sich nicht allzu sehr von den Prognosen und Erklärungen der anderen beiden Schöpfer der bekannten ökonomischen „Grand Theories“, der Ökonomen Joseph Schumpeter und John Maynard Keynes. Sie waren sich in diesem Punkt einig: die kapitalistische Entwicklung werde früher oder später in eine stagnative Phase einmünden müssen, und in dieser Phase werde der Kapitalismus seine Dynamik, sein Wachstum, seine Innovationsfähigkeit und eben auch seine Fähigkeit verlieren, für angehäufte Vermögen (dazu gehört auch das Ersparte der sparsamen schwäbischen Hausfrau) Zinsen zu generieren.
Und wieder taucht die Frage auf: warum um Himmels willen ist das so? Joseph Schumpeter glaubte: weil die Massenmärkte halt eines Tages gesättigt sein werden. Dann werde kein Unternehmer mehr in den Aufbau neuer Kapazitäten investieren, und diese ehemals so dynamische Tätigkeit des innovativen heroischen „Schumpeterschen“ Unternehmers werde sich in eine fast automatische, bürokratische Verwaltungstätigkeit verwandeln. John Maynard Keynes glaubte an ökonomische Statik mit progressiver Arbeitszeitverkürzung, und eine begleitende Kultur der höheren Genüsse und Lebensinhalte, die eben die Enthaltung, ja Verachtung sowohl des ewigen Geldvermehrens wie eben auch des Geldausgebens bedeuten werde. Marx schließlich glaubte an die Verelendung der Massen, die sich aber doch erst in einer Spätphase des Kapitalismus ereignen werde, in der die Möglichkeiten der Erzielung von Kapitalrendite auf der Welt versiegen, nachdem das Kapital sich auf der Jagd nach Rendite und Absatzmöglichkeiten um den ganzen Erdball ausgebreitet hat.
Unternehmervernunft und technische Rationalität
Mason verweist in seinem Artikel ebenfalls auf Marx, und zwar auf die von Marx früh erkannte Wechselbeziehung zwischen sinkenden Zinsen und technologischer Entwicklung: „Es gibt (…) einen großen Ökonomen, der den langfristigen Rückgang der Kapitalrenditen als Produkt der technologischen Entwicklung theoretisiert hat. Karl Marx glaubte insbesondere, dass der industrielle Kapitalismus mit seiner Tendenz, lebendige Arbeit durch Maschinen zu ersetzen, eine langfristige ‚Tendenz zur Senkung der Profitrate‘ hervorrufen würde“. Aber warum? Wozu führt diese Tendenz, lebendige Arbeit durch Maschinen zu ersetzen? Offensichtlich zu gestiegener Arbeitsproduktivität der verbliebenen menschlichen Arbeit, wegen der zugunsten des Kapitalanteils erhöhten „organischen Zusammensetzung“ des Kapitals, wie Marx das genannt hatte. Gesamtgesellschaftlich bedeutet das: gestiegene Produktionsmöglichkeiten. Wenn diese Kapazitäten aber nun nicht vollumfänglich beschäftigt und das erzeugte Produkt nicht voll abgesetzt werden kann – weil die Menschen ja von der Unkultur der Kaufunlust befallen sind, wie die ZDF-Dokumentation meint –, dann entsteht dieses vielschichtige Dilemma des reifen späten hochentwickelten Kapitalismus, dass er mit seiner Kraft nicht mehr weiß, wo er sie lassen soll. Oder auch: wie er sie zu Geld machen soll.
Mason erklärt die Marxsche Sicht wie folgt: „Marx erwartete (…), dass Technologie, Wissenschaft und menschliche Entwicklung einen tiefen, nach unten gerichteten Einfluss auf die Fähigkeit des Kapitals ausüben würden, Gewinne aus unserer Arbeit zu ziehen – und damit auf die Fähigkeit der Finanziers, das Interesse sowohl der Kapitalisten als auch der Arbeiter zu wecken.“ Das ist richtig, aber der Ursachenzusammenhang ist ein schlichterer, der auf die mühsam konstruierte Marxsche Arbeitswerttheorie bequem verzichten kann. Technologie, Wissenschaft und menschliche Entwicklung haben nichts anderes im Schilde geführt, als die menschliche Arbeitsleistung, unterstützt durch allerlei Produkte der technischen Wissenschaften, immer weiter zu steigern – bis endlich dieses rätselhafte Phänomen der Konsumunlust auftaucht, trotz der historisch niedrigen Zinsen.
Und was dann? Mason meint, diese Studie der Bank of England mit ihrem Diagramm der fallenden Zinsen erzähle „einfach die Geschichte der technologischen Reife des Kapitalismus“. Dies bedeute auf lange Sicht, wie er im „Postkapitalismus“ schon dargelegt habe, „dass es einfach keine Renditen geben wird, um ein auf Märkten und Privateigentum basierendes Wirtschaftsmodell aufrechtzuerhalten.“ Gut, die Geschichte der Reife des Kapitalismus – die zugleich eine der Reife und „Vollkommenheit“ der Produktions- und Distributionstechnologien wie auch des Ausgewachsenseins der Marxschen riesigen Warensammlung gewesen ist – endet an dieser Stelle, weil ausreichende neue Nachfrage fehlt und es darum nicht mehr möglich ist, die Warensammlung weiter anwachsen zu lassen; ganz im Gegenteil ist es inzwischen aus ökologischen Gründen geradezu lebensgefährlich geworden, dies zu versuchen, jedenfalls in dem Ausmaß wie es notwendig wäre, um die gewaltigen Massen des über die Jahrzehnte akkumulierten Kapitals wieder zinstragend verwenden zu können.
Aber was ist die Lösung? Ein nicht auf Märkten und Privateigentum basierendes Wirtschaftsmodell? Was wäre das? Hier gerät Mason mit seiner an anderer Stelle vorgeschlagenen Idee von Genossenschaften auf den Holzweg. Warum sollten (private) Genossenschaften, die doch auch für Märkte produzieren und Gewinne erzielen müssen, besser unter diesen Bedingungen überleben können? Hier versteht Mason die Reife der Technologien offenbar zu schlecht, die der Kapitalismus beginnt auszubrüten, wenn er dieses Reifestadium mit schleppenden Umsätzen, niedrigen Zinsen und einem Überangebot von Kapital eben erreicht hat; wobei es genaugenommen natürlich die privaten Unternehmer sind, die „brüten“, weil sie versuchen müssen, in diesem Klima ihre Haut bzw. ihre Unternehmen zu retten. Die materiellen Mittel brüten sie aber nicht selbst aus, sondern fordern sie von der Wissenschaft ein, bezahlen sie und bringen sie in ihren Unternehmen zum Einsatz.
Um zu überleben, gibt es dann genau zwei Möglichkeiten, eine vernünftige, und eine weniger vernünftige. Die weniger vernünftige besteht darin, den Kunden mit mehr oder weniger subtilen bis brachialen Mitteln zu seinem Konsumglück zu zwingen, etwa indem man einfach in Massen etwas produziert und es dann in den Markt drückt, wie man sagt, wie etwa mit Hilfe einer Kaufprämie für teure Autos, die ohne dies offenbar leicht verzichtbar sind. Es bedarf wohl keines Beweises und keiner umfangreichen Konsum- und Marktforschung mehr um zu zeigen, dass Wachstumsmärkte weit und breit nicht auszumachen sind, die bestehenden Massenmärkte aber verstopft und gesättigt, und dass die Masse der heute angebotenen Produkte ebenso verzichtbar wie zur Absatzsicherheit in ihrer Lebensdauer oft auch noch künstlich beeinträchtigt ist. Wenn man Menschen auf diese Weise zum Konsumglück zwingen will, um der Unternehmensgewinne willen, ist das nicht sehr vernünftig.
Die vernünftigere Möglichkeit ist die, dass die Unternehmen versuchen, sich auf die stagnierenden Märkte mit anspruchsvollen Kunden einzustellen. Dann verstehen sie, dass die Kunden schon gut bedient sind, sich eher von Lust und Laune in ihrem Konsumentscheidungen treiben lassen und heute dies und morgen jenes kaufen (wenn überhaupt), und es den Unternehmen darum unmöglich machen, Produktionskapazitäten für ein bestimmtes Produkt aufzubauen, das sie dann in hohen Stückzahlen über lange Zeit verkaufen könnten. Die Unternehmen benötigen darum „intelligente“, hoch flexible Fertigungsanlagen, die sich den schnell wechselnden Launen und Wünschen der Kunden schnell anpassen lassen. Das Risiko, an der Nachfrage und am Bedarf der Konsumenten vorbei zu produzieren, steigt, je reifer der Kapitalismus geworden ist; die Technologien sollen es darum den Unternehmen ermöglichen, agil zu reagieren, und zwar im Prinzip so, dass die Produktionsanlagen idealerweise in der Lage sind, im direkten Kontakt mit dem Kunden in Erfahrung bringen, was der Kunde wünscht, und dies erst dann zu produzieren, wenn der Kunde sich zum Kauf entschlossen hat. Das ist die viel zitierte „On-demand-Produktion“; das Ideal der Fabrik der Zukunft lautet demzufolge: „Die flexible Produktion wird in Zukunft ähnlich einem Online-Marktplatz nur jetzt benötigte Waren produzieren.“ (vgl. Interview zum Production Leven 4) Statt des bisherigen Marktes, auf dem fertig und tendenziell immer in überschießenden Mengen produzierte Güter angeboten werden, werden auf dem „Online-Marktplatz“ nur die digitalen Surrogate, die „digitalen Zwillinge“ der Produkte angeboten und vorgestellt, die physisch erst dann produziert werden, wenn der Kunde sie auf diesem Online-Marktplatz genügend begutachtet und schließlich ausgewählt und geordert hat.
Offensichtlich ist diese Art der Produktion vernünftiger, und dies gleich in mehreren Hinsichten, denn es profitieren der Konsument, der Produzent und die Umwelt, die nicht mit Ressourcenverbrauch und Schadstoffbelastung durch überflüssige Überschussproduktion behelligt wird. Voraussetzung ist natürlich, dass die Technik so ausgereift und so intelligent ist, dass der Konsument sein individuelles Idealprodukt in guter Qualität, möglichst schnell, also innerhalb von Stunden oder Tagen, und auch zu attraktiven Kosten erhält, dass es also nicht teurer ist als das Massenprodukt.
Dies ist nun kein Hype, keine Marketing-Idee! Dies sind signifikante technologische Entwicklungen, die nicht genügend verstanden sind, wenn man nur den Trend zur Produktivitätssteigerung bzw. den von Marx beschriebenen Trend zur Kostensenkung durch Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinenarbeit erkennt. Dieser Trend erlaubt die Minimierung zukünftiger Kosten durch die Minimierung der Risiken des Wertverlustes von Sachanlagen, weil sie eben schnell der Nachfrage der Kunden angepasst werden können. Darum sind die Unternehmen in der Regel gezwungen, diesem Trend zu folgen, es sei denn, sie versuchen es auf die brutale, weniger vernünftige Tour (s.o.)
Was passiert aber, wenn man diesen Trend eben bis zu seinem Fluchtpunkt, seinem maximalen Reifegrad zu Ende denkt? Dann kann sich die Verwendungsweise dieser hochentwickelten Fabrik der Zukunft eben fundamental ändern. Dann können diese Produktionstechnologien in einem Wirtschaftsmodell Verwendung finden, in dem dieses Anlagekapital nicht mehr zur Generierung privater Kapitalrenditen eingesetzt werden muss, sondern es kann bzw. muss dann sogar durch die Nutzer der Online-Marktplätze selber genutzt werden, wobei diese Nutzer der Online-Marktplätze sich sozusagen in eine vernünftige, informierte, verantwortliche Öffentlichkeit verwandeln, die ihre „eigenen“, also in öffentlichem Eigentum befindlichen Produktionsmittel verwenden. Statt dass die Produkte von privaten, risikotragenden und darum renditesuchenden Unternehmern produziert und zur Verfügung gestellt werden, werden sie von einer weitgehend risikolos arbeitenden, hoch automatisierten öffentlichen digitalen industriellen Infrastruktur produziert und bereitgestellt.
Politische Vernunft und technische Rationalität
Die Geschichte der Zinsen mit ihrer konstanten Abwärtsentwicklung seit den ersten Anfängen gewerblicher Verwendung von Überschüssen zur Kreditvergabe ist sozusagen die Geschichte des Kapitalismus als Geschichte der Investition in akkumulierte, vorgetane Arbeit, also in die Produktion von Produktionsmitteln. Solange die Nachfrage danach hoch ist, es also Verwendungsmöglichkeiten für Kapital als produzierte Produktionsmittel gibt, sind die Zinsen hoch. Je mehr von dieser Arbeit aber schon erledigt ist, je mehr akkumuliertes Kapital schon da ist und je schwächer die Nachfrage nach technischen Möglichkeiten zur Ersetzung menschlicher Arbeit geworden ist, umso tiefer fallen die Zinsen. Sie bewegen sich schließlich in den negativen Bereich, um die Menschen gewissermaßen zwangsweise zur Überwindung ihrer (kulturbedingten) Kaufunlust zu bewegen. An diesem Punkt der Entwicklung muss der Prozess von Güterproduktion und Verteilung sozusagen in eine Sphäre außerhalb der Dynamik von Risikokapitaleinsatz zum Zweck der Renditemaximierung verschoben werden. Und das ist traditionell der Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, mit minimalen Risiken für die Kapitalverwendung und ebenso geringen Renditeerwartungen. Nur war dies bisher nie möglich für die Konsumgüterproduktion – aber eben dies rücken die skizzierten Entwicklungen der Produktionstechnologien prinzipiell nun in den Bereich des Möglichen. Damit wird es notwendig, dass die politische Vernunft sich der technischen Rationalität dieser neuen technischen Mittel bemächtigt.
Man darf sich allerdings fragen, woher die notwendige Einsicht und der politische Wille kommen sollen. Die Unternehmen und wissenschaftlichen Akteure, die an der Fortentwicklung dieser Technologien beteiligt sind, werden eher daran interessiert sein, mit derartigen Perspektiven hinter dem Berg zu halten; sie möchten sie wohl eher verhindern. Eine stattliche Anzahl von neu gegründeten wissenschaftlichen Instituten, die sich die Erforschung der digitalen Zukunft und der Zukunft der digitalen Arbeit verschrieben haben, bleibt ebenfalls letztlich dem guten alten Wachstumsparadigma verhaftet. Damit verbunden ist die in den letzten Jahren zu beobachtende Neigung, geradezu beschwörend darauf zu beharren, dass die (künstlich) intelligenten digitalen Technologien zu nie geahnten Höchstleistungen fähig sind, dabei aber nie die menschlichen Arbeitsplätze gefährden, deren Arbeit sie so effektiv unterstützen sollen. Seit der Erfindung der ersten dampfgetriebenen Webstühle weiß man aber, dass kein Unternehmer es sich leisten kann, Geld auszugeben für Investitionen, die ihm kein Geld einbringen. Entweder können Investitionen sich auf der Umsatzseite bezahlt machen, indem sie mehr oder qualitativ bessere und darum höherpreisige Produkte zu produzieren helfen, oder sie machen sich auf der Kostenseite bezahlt, indem sie es ermöglichen, auf teure menschliche Arbeit zu verzichten; und wenn nun die erstere Möglichkeit an zunehmender Kaufunlust scheitert, bleibt nur die zweite Möglichkeit. Genau dies ist eben der bekannte Mechanismus, der über die Jahrhunderte zur kontinuierlichen Senkung der Zinsen geführt hat. Das oft gehörte Argument, dass der Trend zu Produktivitätssteigerungen gestoppt sei und außerdem ja nahezu Vollbeschäftigung herrsche, lässt außer Acht, dass dies nur für den erfolgreichen „Exportweltmeister“ gilt, dem es gelungen ist, die Konsumnachfrage der „Importweltmeister“ mit zu bedienen, die damit aber immer auch einige Prozent Arbeitslosigkeit mit importieren müssen.
Die mechanische Maschine hat seit der ersten Dampfmaschine Denis Papins 1690 hundert Jahre gebraucht, bis sie reif war, den Feudalismus abzulösen, und noch einmal hundert Jahre bis zu ihrem Höhepunkt in der fordistischen Massenproduktion. Es hat bisher knapp hundert Jahre gedauert, bis die ideale Gestalt der digitalen Maschine Alan Turings in der Industrieproduktion sichtbar und nutzbar geworden ist. Hoffen wir, dass die schlafende Vernunft früh genug erwacht um zu erkennen, dass diese Maschine dazu angetreten ist, die Unvernunft des überreifen Kapitalismus zu beenden.