Von den Moden zum Trend

Auf der Tagung Wirtschaftsinformatik ’95 hielt der Begründer des Studienfaches Wirtschaftsinformatik in Deutschland, Professor Peter Mertens, seinen Hauptvortrag „Wirtschaftsinformatik – Von den Moden zum Trend“. Es tat dies in der Absicht, seiner jungen Wissenschaft ihre „langfristigen“ und im Zeitverlauf unveränderlichen, bleibenden Ziele zu weisen.

Er begründete dies so: „Idealerweise würde sich eine Disziplin auf einem geraden Fortschrittspfad in Richtung eines (…) Langfristzieles bewegen.“ Mäandernde Entwicklungen, die einem Trial-and-Error-Pfad folgen, seien also zu vermeiden. Dann stellt er fest, dass es in der Wirtschaftsinformatik seiner Zeit zu mäandernden Entwicklungen gekommen war; die Wissenschaft war also kurzfristigen „Moden“ gefolgt, und hatte dadurch Zeit und Ressourcen verschwendet.


Was wäre aber der gerade Weg gewesen, und auf welches langfristige Ziel hätte er sich hinbewegen sollen? Die Antwort von Peter Mertens war damals: auf das Ziel der „Vollautomation des Unternehmens“. Er machte zwar die Einschränkung, dass diese Vollautomation „sinnhaft“ sein solle, hat aber zu dieser Sinnhaftigkeit lediglich erklärt, dies bedeute, dass ein Automationsschritt jeweils „von der Allgemeinheit nach einer Lernfrist akzeptiert wird“.

Gut zehn Jahre später, anlässlich eines Vortrages auf der Jahrestagung des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. in Dresden am 10. Juni 2006 mit dem Titel „Moden, Trend und Nachhaltigkeit in der Wirtschaftsinformatik“ hat er dies so präzisiert: Am Ende stehe das Ziel des „Betriebes, den kein Arbeitnehmer und keine Arbeitnehmerin mehr betreten muss“, und zur Begründung sagt er am Ende seines Vortrages: „Abschließend eine rhetorische Frage: Wenn wir Sklaven für uns arbeiten lassen können, ohne dass man Menschen erniedrigen muss, weil die Sklaven ja Maschinen sind: Warum nicht?“

Ja warum eigentlich nicht?

Es gab natürlich Einwände, und sie kreisten damals meistens um die Frage, ob dem Menschen denn damit nicht der Mittelpunkt seines Selbstverständnisses und sein Selbstwerterleben, und damit sein Platz in der Gesellschaft geraubt sei. Seine Existenz sei doch dann wertlos. Aber was folgt daraus? Soll man dann auf die Möglichkeit, eine Arbeit von einer Maschine oder einem maschinellen System verrichten zu lassen, verzichten? Auch wenn die Arbeit der Maschine besser, präziser, schneller, effizienter ist? Wenn es zum Beispiel möglich ist, einen Roboter eine Herzoperation durchführen zu lassen, und die Erfolgsaussichten sind erwiesenermaßen größer als wenn ein Mensch das macht: soll man auf diese Möglichkeit, einem Menschen größere Heilungsaussichten zu offerieren, verzichten? Würde es dem Selbstverständnis des Chirurgen guttun, wenn er sagt, lieber Patient, du hast Pech gehabt, du wirst von einem Menschen operiert, denn sonst verliert der sein Selbstwertgefühl?

Man kann tatsächlich sehr systematisch zeigen, dass nicht begründet oder gerechtfertigt werden kann, auf effiziente technische Arbeitsmittel zu verzichten. Es lässt sich rational nicht begründen; die Begründungen, die das versuchen, sind meist zirkulär angelegt oder inkonsistent, oder berufen sich auf rational nicht herleitbare, mit den Werten der Zweiten Aufklärung und der Moderne nicht in Einklang zu bringende Wertideen.

Was ist aber das „harte“ Problem, das sich für die Verwirklichung einer solchen „Utopie“, die Maschinensklaven „für uns arbeiten zu lassen“, stellt?

Das Paradies-Paradoxon

Es ist das ökonomische Kreislaufproblem. Der Wirtschaftswissenschaftler Wassily Leontief hat schon in den 1980er Jahren darauf aufmerksam gemacht; er hat es das „Paradies-Paradoxon“ genannt: Wenn dieser Zustand erreicht wäre, dass die Unternehmen alle erfolgreich vollautomatisiert sind, seien trotzdem nicht paradiesische Zustände ausgebrochen, weil die meisten Menschen dann ja keine bezahlte Beschäftigung hätten, und damit auch keinen Zugang zum Konsum. Die vollautomatisierten Betriebe müssten also bald ihren Betrieb einstellen, weil ihre Erzeugnisse keine Käufer finden. Und die Menschen müssten Not leiden und hungern.

Was ist aus dieser Erkenntnis die Konsequenz? Offensichtlich ist dies die Frage aller Fragen; das Problem bis heute ja noch nicht gelöst.

Aber der Weg zur Lösung ist wohl ein anderer, als nach der richtigen unter den diversen Varianten von Umverteilung zu suchen, also Umverteilung entweder von Arbeit, oder von erarbeitetem Geld.

Mertens hat unterstellt, ein vollautomatisiertes Unternehmen sei das ideale Unternehmen. In ihm seien die in der Wirklichkeit wirkenden Trends zu einem bestmöglichen Optimum, zur Vollendung gekommen. Eine Wissenschaft, deren Domäne es ist, produzierende Betriebe in einen denkbar perfekten, an Perfektion nicht zu übertreffenden Zustand zu versetzen, müsse erkennen, dass dies nur das vollautomatisierte Unternehmen sein kann. Das Problem mit dem Kreislauf und den beschäftigungslosen Menschen sei da irrelevant. Man setze der Medizin ja auch das Ziel, Krankheiten ohne Grenzen zu erforschen und eines Tages alle Krankheiten und Gebrechen schnell heilen zu können, ohne zu fragen, wie viele Arbeitsplätze denn dann für die Ärzte übrig bleiben.

Aber das Kreislaufproblem ist mit diesem Einwand nicht gelöst, denn das stellt sich ja höchst real; es ist keine Frage von Wertungen und Definitionen. Wie ist die Lösung?

Wie sieht das ideale „Unternehmen“ aus?

Vielleicht muss man fragen, ob das ideale Unternehmen denn tatsächlich das vollautomatisierte Unternehmen ist. Ist damit tatsächlich das schlechterdings nicht zu übertreffende Perfectissimum schon genannt und beschrieben?

Wenn man die Tendenzen in der Ökonomie zur maschinellen Substitution von Arbeit betrachtet und sich diese Frage stellt, wohin diese Tendenzen die Entwicklung treiben werden, fällt einem gar nicht auf, dass man unterstellt, die Unternehmen seien notwendig Spezialunternehmen, und sie bleiben Spezialunternehmen, jenseits aller technischen Rafinessen, die da eines Tages noch kommen mögen. Man unterstellt, es werde sich alles Mögliche ändern im Laufe des technischen Fortschritts, aber das werde sich nicht ändern: dass eine Fabrik für Schiffsschrauben eine Fabrik für Schiffsschrauben bleibt, eine für Konzertflügel eine für Konzertflügel, und eine für Textilien eine für Textilien. Sie werden eben nur vollautomatisert.

Aber das wäre offenbar noch nicht das Perfectissimum von maschineller Fabrikationsmaschinerie. Wenn man unterstellt, eine Fabrik, ein maschinelles System kann ein Gut, ein Produkt ohne menschliche Mitwirkung herstellen, dann müssen alle Arbeitsvorgänge ja von programmierbaren automatischen Maschinen ausgeführt werden. Aber programmierbare Automaten sind immer auch universal programmierbare Automaten. Daraus folgt eigentlich, wenn man einmal von der Frage der technischen Realisierung abstrahiert, dass eine voll programmierbare digitale Fabrik immer auch eine universal programmierbare digitale Fabrik sein muss, eine Universalfabrik. Jedenfalls wäre das das Ideal, das schlechterdings nicht mehr übertroffen werden könnte: die gleichzeitig extrem produktive wie auch extrem vielseitig, ja universal verwendbare Fabrikationsmaschine.

Wenn man sich nun von der Frage der technischen Realisierbarkeit erstmal nicht irritieren lässt, und auf diesem Abstraktionslevel bleibt, wird man feststellen, dass sich plötzlich das Kreislaufproblem aufgelöst hat: die Produkte universaler Fertigungssysteme müssen ja nicht ihren Weg über den anonymen Markt nehmen, um ihren Konsumenten zu finden. Eine universale Fabrikationsmaschine kann offenbar auch ihre Dienste direkt bei einem oder mehreren Konsumenten tun, denn sie kann ja (in der Unterstellung) all seine Konsumwünsche jederzeit erfüllen. Das heißt: die ideale Fabrikationsmaschine a priori, vor jeder Erfahrung, normativ beschrieben, ist eine universale Fabrikationsmaschine, und das ist offenbar ein Wesen mit einer ganz anderen Natur als ein vollautomatisiertes Unternehmen. Sie wäre nämlich kein Unternehmen, und sie brauchte keinen Unternehmer, um in Betrieb genommen zu werden.

Vom Gedachten zum Konkreten

Nun kann man sich der Frage der technischen Realisierbarkeit zuwenden. Tatsächlich sind im Laufe der vergangenen rund dreißig Jahre mehrere Varianten von Fabrikationsmaschinen entstanden, die sich an diesem Ideal einer universalen Fabrikationsmaschine orientieren.

Da ist zuerst der Materie Assembler von Neil Gershenfeld vom MIT, dessen forschungsleitendes Ideal der „Star Trek Replicator“ ist, aus der Science Fiction Serie. Seine Forschungen haben das Ziel, eine Fabrikationsmaschine zu entwickeln, die auf molekularere Basis tatsächlich mehr oder weniger alles herstellen kann.

Etappen auf dem Weg zur Realisierung dieses Zieles sind kleine Werkstätten mit vielerlei digital programmierbaren Maschinen, die Vieles, aber bei Weitem noch nicht alles herstellen können. Aber sie sind schon keine Unternehmen mehr; sie befinden sich schon sehr nahe am Konsumenten, dem sie zwar nicht direkt gehören, aber sie gehören der Öffentlichkeit, sie sind öffentliche Werkstätten.

Die große industrielle Produktion befindet sich in der Tat nun auf dem gleichen Weg, hin zur Universalfabrik. Hier sieht die Sache aber viel komplizierter aus.

Zuerst entstand ja das Internet, mit einem Internet der digitalen Dienste, wobei es sich da ja meist um Informationsdienste handelte. Dann entstand aber bald schon auch die Produktion im Internet, mit „Smart Factories“:

Das war das Ergebnis der Wandlung der Industrie von der Industrie 1.0 zur Industrie 4.0:

Damit änderte sich das Business der Fertigung, von der Orientierung auf Produktion und physische Systeme, hin zum Service:

Nach der ersten Welle der Digitalisierung, die sich auf immaterielle Prozesse erstreckte, folgte also die zweite Welle der Digitalisierung von physikalischen Systemen (Internet of Things, Cloud Manufacturing):

Es entstanden die Grundlagen des Cloud Manufacturing:

Und dieses ganze verbundene Netz von Ressourcen, das so entsteht, nimmt dann in der Tat schon sehr die Gestalt eines universalen Fabrikationssystems an. Es kann auf Anforderung die Kapazität zur Herstellung beliebiger Produkte aufgebaut werden, irgendwo in der Cloud, in einem Pool von heterogenen Fabrikationsressourcen.

Verbunden werden die Ressourcen über eine Plattform:

Die verschiedenen Ressourcen der beteiligten Manufacturer werden über einen Router koordiniert:

Wie so etwas aus Sicht des Anwenders etwa für den Fall von Bekleidung aussehen könnte, kann man hier sehen:

Future of Fashion & Retail

Und wie es aus Sicht der Fertigung aussehen könnte, kann man hier sehen; ein On-Demand-Fertigungssystem, das ausgerechnet der Quasi-Monopolist Amazon entwickelt hat, und das er sich hat patentieren lassen:

Amazon’s On Demand Clothing

Aus diesen Komponenten kann in der Tat ein komplexes vernetztes System von Ressourcen entstehen, für vielerlei Produkte des privaten Endkonsums, das man wie ein universales Fabrikationssystem auffassen kann.

Dieses universale Fabrikationssystem ist nun natürlich auch hochproduktiv, und wäre idealerweise ebenfalls so weit wie möglich „vollautomatisiert“. Das wird in der heutigen Debatte meist übersehen, weil man glaubt, man sehe mit all diesen neuen technischen Möglichkeiten neue Wachstumschancen und jede Menge Raum für unternehmerische Entfaltung und Beschäftigung vor sich. Eine Zeit lang und für die mit diesen Dingen beschäftigten Unternehmen ist dies auch so. Aber der langfristige Trend zur maschinellen Arbeitssubstitution wirkt natürlich auch hier, und damit bleibt auch das Problem der schwindenden Arbeit.

Wie löst man also nun das entstehende Kreislaufproblem?

Überträgt man den gedanklichen Schritt der Lösung des Paradies-Paradoxons, das ja in der Lokalisierung des universalen Fertigungssystems am Ort des Konsums besteht, auf so ein komplexes System des Cloud-Manufacturings, dann kann das nur bedeuten, dass dieses sich in der Hand der Öffentlichkeit befinden muss, um so nah wie möglich am Ort des Konsums lokalisiert zu sein.

Nur so wird es auf die Dauer möglich sein, einen Trend umzukehren, der den Produktivkapitalismus ebenso zu einer überlebten Erscheinung der Geschichte macht, wie im schlimmsten Fall auch eine funktionierende Demokratie, indem er deren Prinzip „One People One Vote“ pervertiert in das Prinzip „One Dollar One Vote“. Dieser Trend ist in einem einzigen Schaubild sichtbar zu machen:

Man sieht: zwischen 1990 und 2015 hat das Wachstum der Finanzwirtschaft das Wachstum des BIP in der Welt weit hinter sich gelassen, und diese „Seen von Geld“, in denen die Investoren schwimmen, beginnen auf vielfältige Weise destruktiv in der Wirtschaft wie auch in der politischen Landschaft zu wirken.

Es sind tatsächlich also drei Trends zu beobachten: 1. der die ganze Phase der kapitalistischen Produktion zu beobachtende Trend zur „Vollautomation“, zur Verwandlung von lebendiger Arbeit in tote Arbeit, in Maschinerie, wie Karl Marx das genannt; 2. der gegen Ende der kapitalistischen Entwicklung, mit Eintritt der Sättigungsphase entstehende Trend zur Finanzialisierung, da die Realwirtschaft sich nicht mehr ausdehnen und folglich auch keine Rendite mehr generieren kann; und 3. der technische Trend zur Digitalisierung, und der diese technischen Möglichkeiten nutzende Trend zur Universalisierung und Dezentralisierung der Produktion, um „resiliente“, gegen die Volatilität gesättigter Märkte stabilisierte Produktionssysteme zu schaffen.

Diesen Mega-Trend, den Trend zur Vollautomation hatte Karl Marx ja nur zu deutlich erkannt. Er hat erwartet, dass dieser Trend eines Tages die „bürgerliche Gesellschaft in die Luft sprengen“ werde. Aber was dann? Was sollte dann an die Stelle gesetzt werden? Das konnte Karl Marx noch nicht klar voraussehen und beschreiben.

Wir wissen heute: der Trend zur Vollautomation wird am Ende der kapitalistischen Entwicklung, wenn die Phase der Reife und der Sättigung schon eingetreten ist, von einem Trend zur Universalität begleitet, zur Universalfabrikation. Damit entsteht auch die Möglichkeit der Allokation ohne Märkte, und damit ohne warenförmige Produktion; jedenfalls im Prinzip, als Trend. Dieses entstehende System der Universalfabrikation in der Cloud kann die gesprengte bürgerliche Gesellschaft dann in Betrieb nehmen, um darauf eine neue Gesellschaft, mit neuen, höheren Produktionsverhältnissen aufzubauen.

Also, im Grunde doch ganz einfach, in den Grundzügen… 🙂

Es wird aber hoffentlich zu einer „Sprengung“ nicht kommen müssen. Es wird sich auch weder die ganze Volkswirtschaft verstaatlichen, noch „vollautomatisieren“ lassen. Es wird wohl so sein, dass ein zentraler, stabilisierender Anker in der Mitte der Ökonomie entsteht, eine Art Backbone, das aus überprivaten, vielleicht staatlichen Leistungen und Services besteht, das in vielfältiger Weise mit privaten Unternehmen kooperiert. Es ist vielleicht vergleichbar mit der Funktion der Netzagentur, die das Schienennetz der Bundesbahn betreibt, das ja nach wie vor nicht privatisiert worden ist, und den dieses nutzenden Unternehmen, obwohl dieses Beispiel darum hinkt, weil der erhoffte Wettbewerb privater Anbieter von Beförderungsleistung auf der Schiene kaum zustande gekommen ist.

Zentrale Dienste und Strukturen, deren Besitz und Kontrolle ihren Besitzer zu einem Monopolisten macht, dürfen nicht in privater Hand sein; das hat inzwischen sogar ein Erzkapitalist wie George Soros erkannt, und macht dies den großen US-Digitalmonopolisten zum Vorwurf. Der Anteil der staatlichen Strukturen in der Ökonomie, die Staatsquote muss also in dieser nachkapitalistischen und Post-Wachstumsphase wesentlich erhöht werden, um Stabilität zu erreichen und zu verhindern, dass die privaten globalisierten Kapitalmassen sich zerstörerisch in die zentralen Funktionen von Wirtschaft und Politik einnisten.

Die konkreten Formen, wie dies alles zu realisieren sein könnte, müssen wohl noch ersonnen und geschaffen werden, die Prinzipien sind aber so benannt und erkennbar.

Die Zeit des Wachstums, der Maximierung des Outputs, der unentwegten Arbeit an der Maximum-Aufgabe ist vorbei, es kommt nun die Phase der Konsolidierung und der Kultivierung, mit größeren Freiheiten der Lebensgestaltung.

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